30. Mai

Der gefährlichste Augenblick in einem gutgeführten Leben ist der, wenn es anfängt, zeitweise etwas langweilig zu werden. Dann sinken die einen – in Ermangelung größerer Ziele – in eine vielleicht mäßige, aber doch geistlähmende Sinnlichkeit zurück; andere suchen in Ehrgeiz, Parteileidenschaft oder Habsucht die Aufregung, die ihnen sonst in ihrer täglichen Arbeit mangelt; dritte machen aus der Gottseligkeit ein Gewerbe oder wenigstens eine Unterhaltung.

Das Leben ist fast zu einfach, wenn man bloß das Wahre in allen Dingen ins Auge fasst. Daher suchen die Menschen leicht etwas anderes, das sie mehr beschäftigt und aufregt.

Seinen Lieblingen aber schickt Gott Leiden und schwere Lebensaufgaben als Würze des Daseins, bis sie über diese gefährliche Lebensstufe hinüber sind.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)