Mein Heiland nimmt die Sünder an

(Lied Nr. 224 aus: Kleines Gesangbuch der evangelischen Brüdergemeine, Gnadau 1875)

  1. Mein Heiland nimmt die Sünder an,
    die unter ihrer Last der Sünden
    kein Mensch, kein Engel trösten kann,
    die nirgends Ruh und Rettung finden;
    den’n selbst die weite Welt zu klein,
    die sich und Gott ein Greuel sein,
    den’n Moses schon den Stab gebrochen
    und sie der Hölle zugesprochen,
    wird diese Freistadt aufgetan:
    mein Heiland nimmt die Sünder an!

  2. Sein mehr als mütterliches Herz
    trieb ihn von seinem Thron auf Erden;
    ihn drang der Sünder Weh und Schmerz,
    an ihrer Statt ein Fluch zu werden;
    er senkte sich in ihre Not
    und schmeckt’ für sie den bittern Tod.
    Nachdem er nun sein eigen Leben
    zur teuren Zahlung hingegeben
    und für die Welt genug getan;
    so heißt’s: Er nimmt die Sünder an.

  3. Nun ist sein aufgetaner Schoß
    ein sichres Schloss gejagter Seelen:
    Er spricht sie von dem Urteil los
    und tilget bald ihr ängstlich Quälen;
    es wird ihr ganzes Sündenheer
    ins unergründlich tiefe Meer
    von seinem reinen Blut versenket,
    und ihn’n der heilge Geist geschenket
    zum Führer auf der Gnadenbahn:
    Mein Heiland nimmt die Sünder an.

  4. So bringt er sie zum Vater hin
    in seinen blutbeflossnen Armen;
    das neiget dann den Vatersinn
    zu lauter herzlichem Erbarmen:
    Er nimmt sie an an Kindesstatt;
    ja alles, was er ist und hat,
    wird ihnen eigen übergeben;
    die Türe zu dem ewgen Leben
    wird ihnen fröhlich aufgetan.
    Mein Heiland nimmt die Sünder an.

  5. O solltest du sein Herze sehn,
    wie sich’s nach armen Sündern sehnet,
    sowohl, wenn sie noch irre gehn,
    als wenn ihr Auge vor ihm tränet!
    Wie streckt er sich nach Zöllnern aus;
    wie eilt er in Zachäi Haus;
    wie sanft stillt er der Magdalenen
    den milden Fluss der Sündertränen
    und denkt nicht, was sie sonst getan:
    Mein Heiland nimmt die Sünder an.

  6. Wie freundlich blickt er Petrum an,
    ob er gleich noch so tief gefallen!
    Nun dies hat er nicht nur getan,
    da man ihn sah auf Erden wallen:
    Nein, er ist immer einerlei,
    gerecht und fromm und ewig treu:
    Wie er war unter Schmach und Leiden,
    so ist er auf dem Tron der Freuden
    den Sündern liebreich zugetan.
    Mein Heiland nimmt die Sünder an.

  7. So komme dann, wer Sünder heißt,
    und wen sein Sündengreul betrübet,
    zu dem, der keinen von sich weist,
    der sich gebeugt zu ihm begibet.
    Wie, willst du dir im Lichte stehn
    und ohne Not verloren gehn?
    Willst du der Sünde länger dienen,
    da dich zu retten er erschienen?
    O nein! Verlass die Sündenbahn:
    Mein Heiland nimmt die Sünder an.

  8. Komm nur, mühselig und gebückt,
    komm nur, so gut du weißt zu kommen;
    wenngleich die Last dich niederdrückt,
    du wirst auch kriechend angenommen.
    Sieh, wie sein Herz dir offen steht
    und wie er dir entgegengeht!
    Wie lang hat er mit vielem Flehen
    sich brünstig nach dir umgesehen!
    So kommt dann allesamt heran:
    Mein Heiland nimmt die Sünder an.

  9. Sprich nicht: Ich hab’s zu grob gemacht,
    ich hab die Güter seiner Gnaden
    so schändlich und so lang veracht’t;
    er hat mich oft umsonst geladen:
    Wofern du’s nur jetzt redlich meinst,
    und deinen Fall mit Ernst beweinst,
    so soll ihm nichts die Hände binden,
    und du sollst noch Genade finden:
    Er hilft, wenn sonst nichts helfen kann.
    Mein Heiland nimmt die Sünder an.

  10. Doch sprich auch nicht: Es ist noch Zeit,
    ich muss erst diese Lust genießen;
    Gott wird ja eben nicht gleich heut
    die offnen Gnadenpforten schließen.
    Nein, weil er ruft, so höre du,
    und greif mit beiden Händen zu;
    wer seiner Seelen Heut1 verträumet,
    der hat die Gnadenzeit versäumet;
    ihm wird hernach nicht aufgetan.
    Heut komm, heut nimmt dich Jesus an.

  11. Ach zeuch mich selbsten recht zu dir,
    holdselig süßer Freund der Sünder!
    Erfüll mit sehnender Begier
    auch uns und alle Menschenkinder.
    Zeig uns bei unserm Seelenschmerz
    dein aufgespaltnes Liebesherz;
    und wenn wir unser Elend sehen,
    so lass uns ja nicht stille stehen,
    bis dass ein Jeder sagen kann:
    Gott Lob! Auch mich nimmt Jesus an.

Text: Leopold Franz Friedrich Lehr (1709–1744)

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