12. Februar

Die weitaus meisten Menschen haben keine Ahnung von dem Glück und der Freudigkeit, die auf dieser mangelhaften Erde doch zu haben sind, trotz allem, was ihnen entgegensteht.

Die Armen kleben beständig nur an ihrem Elend und sehen wegen der nächsten Sorgenwolke nie den Himmel. Die Reichen gehen selten durch das Nadelöhr, das sie unfehlbar passieren müssen, um wirklich glücklich zu sein; die dem Glauben Abgeneigten stoßen sich beständig an dem Gebaren der kirchlich Frommen, das ihnen zu viel Kritik Anlass bietet.

Alle wollen Glück und Freude da herhaben, wo sie überhaupt nicht sind; die aber durch das alles hindurchdringen, werden zuletzt sämtlich sagen, dass die Erde doch kein »Jammertal« ist.

Das Traurigste, was es gibt, ist der Rückblick im Alter auf ein halb oder ganz verlorenes Leben, das viel schöner hätte sein können. Das ist jetzt das Schicksal vieler Tausende, auch in den gebildeten Klassen – lass es nicht das deinige sein.

Barnabas, »Sohn des Trostes«, ist ein schöner Name, den alle Christen unbedingt tragen sollten. Bei ihnen sollte man eben stets Trost haben können. Bei den meisten aber hat man nicht das Gefühl, dass sie ihn in Fülle haben und ihn nicht selbst beständig in allerlei Veranstaltungen suchen, ohne zu einer vollkommenen Befriedigung zu gelangen. Das ist das, was die Welt ihnen vorwirft, und ganz mit Recht.

Der Grund, warum manche ausgezeichnete Menschen doch, wenn sie gestorben sind, sehr wenig vermisst werden und manche ganz einfache wohl, ist eben der, dass die einen Kinder des Trostes gewesen sind, bei denen man stets »Frieden« fand, die andern nicht.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)