6. April

Was im jetzigen Zustand der menschlichen Gesellschaft am notwendigsten erscheint, ist ein gewisser Instinkt für das Realistische. Ohne den verfällt man leicht den unzähligen Projekten, Systemen, Vereinen, Parteiagitationen, literarischen und politischen Strömungen oder religiösen Gesellschaften und Sekten, die täglich auf jeden Gebildeten einstürmen und von denen nur ein geringer Teil lebensfähig ist. Die meisten haben ein sehr kurzlebiges Dasein und verschwinden nach einigen Aufrufen oder Jahresberichten in den nächsten Jahren wieder, oder sie zersplittern sich in verschiedene, ebenso haltlose Fraktionen. Davon halte dich tunlichst fern.

Der Sozialismus, der die Nächstliegende, aber nicht die größte Frage der Zeit ist, kann nur innerlich, durch das wahre Christentum überwunden werden. Alle anderen Gegenmittel sind Selbsttäuschungen wohlmeinender Leute, und auch der sozialistische Staat, wie er geträumt wird, würde in seiner ausgedehntesten Ausführung keine allgemeine Befriedigung herbeiführen.

Wenn du dein Leben nicht mit unnützer Philanthropie in irgendeiner Form verlieren willst, dann hilf das wahre Christentum befördern und die Vorurteile, die dagegen noch bestehen, überwinden. »Machet die Menschen anders; dann ändern sich ihre Verhältnisse ganz von selbst.« Vorläufig aber haben noch selbst die aufrichtigen und wohlmeinenden Führer der Sozialisten einen Widerwillen gegen das Christentum, das sie im Original meist gar nicht kennen. Die Versuche mit einem »christlichen« Sozialismus sind bisher ziemlich mangelhaft ausgefallen – mit einziger Ausnahme: der Heilsarmee, die etwas Gutes von dieser Art ist.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)