27. September

Der allein richtige Grundsatz im Verkehr mit den Menschen, ja mit allen Geschöpfen Gottes besteht darin, keines unnötig zu plagen, mit allen Mitleid zu empfinden und jedem Ruhe und Lebensfreude zu gönnen – aber auch zu verlangen, dass es seine Pflicht erfülle und nicht bloß für den Genuss lebe. Das ist das Recht der Erziehung und Zähmung gegenüber dem Naturrecht der Freiheit; das Recht der Eroberung wilder oder halbwilder Gebiete; das bedingte Recht der Aristokratie und der Herrschaft über Menschen, das insoweit besteht, als es zu ihrem Vorteil ausgeübt wird. Jede andere Herrschaft ist Tyrannei und verdirbt den, der sie erleidet, ebenso wie den, der sie ausübt.

Auch die zivilisierten Völker würden heute einer etwas intensiveren, aber guten Regierung geneigter sein, als es längere Zeit hindurch der Fall war. Und gleiches gilt für eine wirkliche Aristokratie, die nicht bloß einen Namen trägt, sondern ihre Pflicht erfüllt, in allem Edlen und Großartigen tatkräftig voranzugehen und ein gutes Beispiel zu geben. Denn die Menschen empfinden – besonders seitdem sie auch Gott aufgegeben haben – den "Mangel an Regiment" (Ri 5 7). Die Übertreibungen Nietzsches sind bloß das Zeichen einer gewissen Stimmung, die besteht.

Aber niemand wird die modernen Völker mehr bewegen können, eine schlechte Regierung oder eine geringdenkende, genusssüchtige Aristokratie bloß aus Legitimitäts- oder Religionsgründen stark zu respektieren. Das ist für immer vorbei.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)