Ganz edelgearteten, und dabei gewöhnlich etwas zartbesaiteten, Leuten darf man über irgendeinen Mangel in ihrem religiösen oder philosophischen Glauben oder in ihrem sittlichen Leben keine direkten Vorwürfe machen. Sie empfinden solche zu stark, gleichviel ob sie berechtigt sind, oder nicht.
Man muss nur versuchen, sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie sich auf einem Nebenweg mehr oder weniger gefährlicher Art befinden – was oft sogar am besten durch anhaltendes Schweigen geschieht.
Sie sagen sich die Wahrheit dann selbst weit besser, gerechter und behutsamer, als man es tun könnte, und sind überdies noch dankbar für die vertrauende Geduld, das Verständnis und die Rücksicht, mit der man sie in schwerer Anfechtungszeit behandelt hat. Gewinnen sie dagegen den Eindruck, dass man Vertrauen und Hochachtung für sie verloren habe, dann geben sie beides leicht selber auf, womit ein unsagbarer Schaden entsteht. Viele Eltern und Erzieher erkennen dies nicht und stehen nachher betrübt vor den Ruinen eines edlen Lebens, das sich manchmal nicht wieder aufbauen lässt – oder nur mit viel mehr Geduld und Nachsicht, als vorher erforderlich gewesen wären.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)