4. Januar

Wenn einmal deine ganze Gedankenwelt dahin gerichtet ist, beständig zu fragen: »Was kann ich in diesem Augenblick Gutes und Richtiges tun?« statt (wie jetzt wahrscheinlich): »Was kann ich Schönes und Angenehmes genießen?« oder: »Wie kann ich meine Lage zu diesem Endzweck verbessern?«, dann wirst du eine ganz andere, befriedigendere Vorstellung von dieser Welt bekommen, in der du lebst, und überhaupt erst eigentlich wissen, was »leben« heißt.

Es wird dir damit zunächst sehr viel gleichgültiger werden, ob dein Leben etwas schwerer oder leichter, gesünder oder kränklicher sich gestaltet, wenn nur Gelegenheit zu Gutem vorhanden ist, an der es selten fehlt; während bei der anderen Lebensanschauung Unbefriedigung, Sorge, Furcht, überhaupt Unfriede innen und nach außen ganz unvermeidlich ist, selbst in den allerbesten Lebensstellungen, geschweige denn in den anderen.

Das ist der reelle und große Unterschied zwischen den heutigen Menschen aller Religionen und Klassen, neben dem alle anderen Unterschiede wenig bedeuten.

Halte dich an jene, die stets nach dem Guten und Richtigen fragen, gleichviel welche Religion oder Philosophie sie haben und welchem Stand sie angehören.

GBG 370    GBG 372

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)