Über Menschenkenntnis (2. Teil)

(aus Carl Hilty: »Glück«, Teil 2, Leipzig/Frauenfeld 1907)

Den ersten Teil dieses Aufsatzes finden Sie hier.

Der Umgang mit Menschen, die Lebenskunst in dieser wichtigen Richtung, gründet sich notwendig auf richtige Menschenkenntnis. Denn wer mit Menschen freiwillig umgeht, die er für schlecht oder falsch ansehen muss, der handelt trotz all seiner Menschenkenntnis töricht und ist ein Selbstmörder dazu. Wir sind in diesem Punkt stark von den Auffassungen unserer Großväter abgegangen; der heutige Umgang ist viel weniger sentimental und viel ernsthafter als vor hundert Jahren. Dabei ist die beständig wiederkehrende Frage nebensächlich, ob die Menschen von Natur aus gut oder böse seien. Praktisch aufgefasst haben sie die Anlage zu beidem, und es handelt sich für uns darum, wie der Apostel Paulus sagt, sich nicht durch das Böse, dessen Berührung doch unvermeidlich ist, überwinden zu lassen, sondern es durch das Gute zu überwinden (Röm 12 16-21).

Die eigentlich entscheidende Frage im Verhältnis zu den Menschen lautet, ob noch guter Wille und Wille zum Guten vorhanden ist, oder nicht. Im ersteren Fall muss man alle Schwächen geduldig und liebevoll ertragen, im anderen, glücklicherweise viel selteneren – wenn der Wille für das Böse sich einmal völlig ausgesprochen hat – ist "Krieg mit Amalek von Kind zu Kindeskind"1 die einzig zulässige und gottgewollte Umgangsform.

Wenn man das nicht stets als Grundregel vor Augen hat, ist der Umgang mit Schlechten und Schwachen, dem man nie ganz ausweichen kann, für edler geartete Menschen ein Übel, das zuletzt zu Menschenhass und Vereinsamung oder zur Gleichgültigkeit gegen alle wirklichen Grundsätze führen kann. Es gibt aber auch hier eine Reihe von Erfahrungssätzen, deren Beachtung den Umgang wenigstens erleichtert.

Das beste Verhältnis zu den Menschen entsteht im Ganzen genommen durch eine einfache, natürliche, aufrichtige Freundlichkeit zu jedem, der einem begegnet, etwa so, wie gutartige Kinder sie haben, bevor sie die Niedrigkeit der Menschen erfahren. Dazu kann man wenigsten in einem gewissen Alter, nach manchen schmerzlichen Erfahrungen, wieder gelangen, so dass das Alter denn auch in diesem guten Sinn eine zweite Kindheit wird. Dann kann es sogar dahin kommen, dass man auch die Bösen als gut nimmt, so wie sie es sein könnten und in ihren besten Stunden auch sein wollten, so dass sie selbst für Augenblicke ihr Wesen vergessen und sich besser und glücklicher fühlen. Das, nicht die Vernichtung des Bösen, ist der größte Sieg des Guten in der Welt.

Dazu gehört dann aber auch, dass man das augenblickliche Verhalten der Menschen nicht zu wichtig nimmt. Jeder kann an sich selbst erfahren, wie leicht sich unsere Stimmung ändert und wie wechselnd und unsicher unsere Urteile über andere sind, wenn nicht das Herz "durch Gnade fest" geworden ist.

Alle dauerhaften menschlichen Verhältnisse beruhen jedoch auf Gegenseitigkeit. Man darf nie nur nehmen, aber auch nie nur geben wollen; das endet stets in Missvergnügen.

Die Gelegenheit, den Menschen große Dienste zu erweisen, ist nicht sehr häufig; dagegen kann man auf Schritt und Tritt jemandem eine kleine Freude machen, wenn es auch bloß ein freundlicher Gruß wäre, der schon manches einsame und freudenarme Dasein wie ein Sonnenblick erhellen kann. Man sollte keinen Tag seines Lebens beginnen, ohne sich vorzunehmen, jede Gelegenheit dazu zu benutzen und umgekehrt auch das kleinste Unrecht zu vermeiden, denn man weiß nie, was daraus entstehen kann. Diese Freundlichkeit ist eine bloße Gewohnheit, die mitunter selbst innerlich menschenfreundlich gesinnte Menschen zu ihrem großen Schaden nicht haben.

Ganz gemeine Naturen kennen freilich nur Furcht, nicht Liebe. Sobald sie sich nicht mehr fürchten, werden sie dreist und unlenksam. Für diese gilt der Spruch: "Sei immer gut, doch nie zu gütig; die Wölfe werden sonst leicht übermütig." Für andere ist er jedoch nicht wahr. Rechte Güte ist im Gegenteil die reifste Frucht eines wohlgeführten Lebens.

Manche Menschen wollen ihre Nebenmenschen dadurch zu Anerkennung zwingen, dass sie großmütig handeln. Es gelingt ihnen aber selten, da andere diese Absicht bemerken und den Egoismus dahinter wittern, auch wenn er anderer Art ist als der gewöhnliche. Sie würden mit weniger an äußerer Leistung, aber ruhiger und konsequenter gegeben, ihr Ziel weit besser erreichen.

Viele im Grunde recht gute Leute haben die Gewohnheit, immer etwas zu tadeln und einzuwenden, selbst wenn sie den Wünschen, die an sie gerichtet werden, entsprechen. Sie erreichen damit, dass die andern nur das Nein hören und lieber mit leichtfertigeren, aber auch leichtlebigeren Weltleuten umgehen als mit ihnen. Man darf den Menschen auch nicht immer widersprechen, selbst da wo sie Unrecht haben. Oft nützt Schweigen mehr und erbittert nicht. Mitunter sind ihnen ihre eigenen Behauptungen nicht einmal rechter Ernst; erfahren sie aber Widerspruch, so bestärken sie sich darin und sagen dann etwas, das sie nicht mehr widerrufen können. Muss man aber widersprechen, um der Wahrheit willen, so ist ein einmaliger Widerspruch genug; das fortwährende Diskutieren über einmal bekannte und festgestellte Meinungen ist gänzlich unfruchtbar.

Streite vor allem nicht mit Eiferern für irgendeine spezielle Sache, von denen es heute viele gibt. Und es ist auch sicher nicht nötig, einer Mutter zu sagen, dass ihr Kind eine hässliche Nase oder einen schiefen Gang habe, wenn man nicht ihr Hausarzt ist, oder einem Schriftsteller, dass sein Buch langweilig sei, wenn man nicht Kritiker von Beruf ist.

"Wer will, dass sein Urteil Glauben finde, spreche es kalt und ohne Leidenschaftlichkeit aus", sagt Schopenhauer. Das "kalt" ist etwas zu viel dabei, aber das Sprechen ohne sonderliche Betonung, das Vermeiden des Superlativs ist eine gute Gewohnheit.

"Von dem Nächsten soll man" – so lehrt uns die heilige Maria Magdalena de Pazzi – "so wenig wie möglich reden, denn man fängt mit Gutem an, schließt aber gewöhnlich mit Bösem. Unser Nächster ist ein Glas, das leicht zerbricht, wenn man es zu oft in die Hand nimmt."

Eine große Kunst im Umgang mit Menschen besteht darin, freundlichen Widerstand leisten zu können. Dazu gehört auch, dass man seine Gründe angibt, nicht einfach aus Bequemlichkeit Nein sagt, sondern den anderen mit guten Gründen zu überzeugen sucht, statt ihm zu befehlen. Alle Menschen sehen in einem solchen Appell an ihren eigenen Verstand einen Achtungsbeweis, der ihnen wohltut und sie oft sogar mit dem negativen Ergebnis gänzlich aussöhnt. Daher sagt auch die israelitische Spruchweisheit: "Wer einen Menschen straft, wird nachher Gunst finden, mehr denn der da heuchelt", oder: „Der Gerechte schlage mich freundlich, das wird mir so wohl tun wie Balsam auf mein Haupt" (Ps 141 5, Spr 9 8). Etwas abschlagen zu können, ist überhaupt eine nützliche Kunst; nur wird sie von denen, die sie verstehen, meistens mit zu großer Vorliebe ausgeübt.

Sehr zweckmäßig ist oft die Uneinlässlichkeitsklausel: Mit einem "Wir wollen das erwägen" oder "Man kann sich das ja überlegen" wird einstweilen guter Wille gezeigt, die Entscheidung jedoch verschoben und oft genug damit die ganze Sache erledigt. Der andere ändert inzwischen seinen Sinn, oder sie wird ihm gleichgültiger, während im Augenblick dieser Wille sein Himmelreich war. Sehr weltkluge Leute kleiden daher selbst ihren Widerspruch stets in eine scheinbar zustimmende Form, wobei ihre abweichende Meinung bloß als kleine Berichtigung zum gegnerischen Vorschlag erscheint.

Nur in wirklich unrechten Dingen trifft dies alles nicht zu. Da darf man nicht der Auffassung Raum geben, als ob man am Ende auch zustimmen könnte oder es wenigstens für angebracht hielte, sondern man muss im Gegenteil "den Anfängen widerstehen", sonst ist zuletzt Verrat die Folge (Mt 26 69-75). Es ist die Taktik des Bösen, auf diese Weise dem Widerstand seine Kraft zu nehmen,

Die unglücklichste Methode ist, unfreundlich nachzugeben. Damit verliert man sein Spiel doppelt. Bei schwachen Menschen ist dies aber das Gewöhnliche; sie wollen ihre Schwäche damit verbergen, dass sie noch ein wenig poltern. Der Talmud sagt dazu: "Gib nie unfreundlich, sonst nimmt die Miene zurück, was die Hand gibt."

In allen gleichgültigen Dingen, von denen es ja unendlich viele gibt, muss man stets den Willen der anderen tun. Das macht leichtes Leben und gute Freunde ohne alle Schwierigkeiten. "Auf dass wir sie nicht ärgern" – auch wenn sie nicht im Rechte sind – ist in solchen Dingen eine große Weisheit (Mt 17 27).

Mit abhängigen Leuten ist es das Beste, kurz angebunden, aber stets freundlich und höflich zu sein, sofern sie selbst ihre Stellung kennen. Sonst aber gilt, "die Unterworfenen zu schonen und die Hochmütigen zu vernichten"2.

Mit sehr reichen oder sehr vornehmen Leuten ist der richtige Umgang immer schwer, denn es entsteht daraus entweder ein Klientelverhältnis oder eine stete Wachsamkeit gegen alles Annehmen, die mit einer guten Freundschaft ebenfalls unverträglich ist. Denn Freundschaft besteht darin, gern zu geben und gern anzunehmen, ohne jedes Rechnen. Außerdem machen Reichtum und Vornehmheit sehr oft gefühllos für die wahren Lebensgüter und beschränkt in den Ansichten über Menschen und Leben (Lk 7 25, Lk 7 44, Lk 8 14, Lk 9 9-10, Lk 12 21, Lk 12 29, Lk 13 32, Lk 14 12-13, Lk 19 5, Lk 23 8-11, 1 Kor 7 23).

Hochgestellte Menschen schätzen den Vorteil, den andere aus dem Umgang mit ihnen ziehen, oder die bloße Möglichkeit des andern, irgendwann einmal ihre Hilfe in Anspruch nehmen zu können, viel zu hoch ein. Daher sind sie auch undankbar für alles, was ihnen erwiesen wird, denn sie sehen alles als im Voraus bezahlt an. Man darf reichen Leuten daher nicht leicht etwas schenken. Auch für die äußere Lebenstätigkeit eines Menschen ist häufiger Verkehr mit sehr vornehmen Personen meistens undankbar. Ein israelitischer Spruch sagt darüber: "Sei vorsichtig mit Machthabern. Sie lassen den Menschen nur näher zu sich in ihrem eigenen Interesse, erscheinen als Freunde zu der Zeit, in der sie Nutzen davon haben, und stehen dem anderen nicht bei zur Zeit seiner Bedrängnisse." Der Spruch Lk 16 15 ist hier grundsätzlich maßgebend: "Was hoch ist unter den Menschen, das ist ein Gräuel vor Gott." Doch muss auch diese Ablehnung freundlich geschehen.

Unangenehm sind Leute, die, statt selber nachzudenken, stets Rat suchen und diesen nie befolgen. Insbesondere darf man zum Heiraten nicht leicht zu- oder abraten und Schriftstellern niemals seine Meinung über ihre noch zu publizierenden Werke aussprechen. Ein sehr schwieriger Umgang sind ferner die "vom Schicksal Verfolgten", die ihre eigenen Fehler nicht einsehen. Solche Leute, die ihn zum "Richter und Erbschlichter" machen wollten, hat selbst Christus kurz abgewiesen (Lk 12 13-15).

Eine friedlose und unzuverlässige Gesellschaft sind auch die Menschen, die fortwährend über sich und andere nachsinnen. Sie sind stets eitel, dabei schwach und unendlich schwankend, in ihrem Urteil über andere ebenso wie in der eigenen Schätzung. Sie lieben niemanden, nicht einmal immer sich selbst, und werden von niemandem geliebt. Meide sie!

Gegen naiv unverschämte Leute gibt es drei Arten der Selbstverteidigung: Grobheit, die aber etwas Herabwürdigendes hat; Kälte, die nicht menschlich ist und einen Vorwurf im Gewissen zurücklässt; und Humor. Der Letztere allein zeigt die wahre geistige Überlegenheit.

Recht dreiste Egoisten haben die Art, das, was sie vom anderen haben wollen, ihm als seinen eigenen Vorteil zu verkaufen, damit sie des Dankes und jeder Verpflichtung dafür enthoben sind. Das darf man niemals, auch nicht stillschweigend, durchgehen lassen. Vielmehr muss man die Sache zuerst ruhig auf ihren richtigen Standpunkt stellen, wenn man dem Ansinnen entsprechen will.

Das wirft die Frage auf: Soll man Bittenden immer geben? Ich glaube, im Allgemeinen ja; die Vorschriften des Christentums darüber sind zu eindeutig (Mt 5 42). In den meisten Fällen handelt es sich ja auch mehr um das "Wieviel", und das liegt in der Willkür des Gebers. Auf Undank aber muss man sich von vornherein bei jedem Geben gefasst machen und das Gegenteil als die Ausnahme betrachten.

Abweisen soll man Bittende freundlich, mit einem guten Wort, das auch eine Gabe ist, manchmal sogar wertvoller als ein kleines Geldstück. Aber das will gelernt sein und ist sogar eine große Kunst. Es muss kurz und glatt, ohne viele Redensarten, aber in freundlichem Ton geschehen; das Gegenteil erbittert nur. "Man spricht vergebens viel, um zu versagen; der andre hört von allem nur das Nein" (Goethe, Iphigenie auf Tauris).

Gern geben ist dagegen zum Teil eine Gewohnheit, die den Kindern von Jugend auf beigebracht werden muss, statt sie, wie dies öfter geschieht, bloß einseitig zur Sparsamkeit zu erziehen. Sparsam sollen sie an sich werden, aber nicht an anderen. Ein äußeres Mittel dazu ist, kein Portemonnaie zu tragen. Man greift leichter in die Tasche als in eine Geldbörse. Viel Ungehöriges beim Umgang mit Menschen ist überhaupt bloße Bequemlichkeit oder Trägheit zum Guten.

Viele allgemein anerkannte Menschen, die jedermann lobt, sind ruhige und ziemlich pflichtgetreue – Egoisten. Deren Wegen muss man nicht folgen. Die wirklich edlen Menschen haben stets Feinde gefunden.

Umgang mit Feinden

Feinde sind vielleicht der nützlichste, wenn auch keineswegs der angenehmste Umgang. Nützlich nicht nur, weil sie oft künftige Freunde sind, sondern weil man durch sie am meisten redlichen Aufschluss über seine eigenen Fehler empfängt – und starken Antrieb sie zu verbessern. Außerdem besitzen Feinde im Großen und Ganzen das richtigste Urteil über die schwachen Seiten eines Menschen. Und man lernt auch bloß durch ein Leben unter ihren scharfen Augen die wichtigen Tugenden der Selbstbeherrschung, der strengen Gerechtigkeitsliebe und der steten Aufmerksamkeit auf sich selbst kennen und üben.

Daher ist es eine törichte Redensart, mit der man oft jemanden zu loben meint, wenn man, etwa in einem Nachruf, von ihm sagt: "Er hatte keine Feinde." Das sind die Leute, die wir bei Dante in der Vorhölle antreffen, "die ohne Schimpf und ohne Ruhm gelebt haben" und daher "von Recht und Gnade verschmäht wurden" (Inferno, 3. Gesang). Ein tüchtiger Mensch geht nicht durch das Leben, ohne Feinde zu bekommen. Aber schön ist es allerdings, wenn er am Ende seines Lebens keine mehr hat. Versöhnte Feinde, denen die feurigen Kohlen auf ihrem Kopf brennen, sind das Größte, was der Mensch auf Erden erlebt.

Damit soll aber nicht gesagt sein, dass der Umgang mit Feinden eine leichte Sache sei. Er gehört im Gegenteil zu den schwierigsten Aufgaben eines richtig geführten Lebens. Besonders schwer ist es, eine lange Reihe von Ungerechtigkeiten zu ertragen, die den Erfolg auf ihrer Seite zu haben scheinen. Dazu gehört notwendig der Glaube an einen gerechten Gott, der auch die ungerechten Menschen als seine Werkzeuge gebraucht, sie so etwas tun "heißt", sie andererseits aber auch so fest am Zügel hält, dass sie nicht weiter gehen dürfen, als er es will. Sonst erträgt man das nicht ohne Schaden. Die rechten Trostgedichte für solche Fälle sind Ps 37, Ps 73 und Ps 113.

Einige der besten Stellen der Heiligen Schrift über den Umgang mit Feinden sind folgende:

Spr 14 4    Spr 14 7    Spr 21 3    Spr 26 26
1 Mos 26 27-29    2 Mos 23 22    4 Mos 14 9    5 Mos 23 10    5 Mos 32 35
1 Sam 7 3    2 Sam 24 14    Sam 15 10    Sam 16 11
2 Chr 25 8    2 Chr 20 17    Hiob 1 10-12    Hiob 2 6
Ps 81 14-15    Ps 24 8    Ps 24 20-22    Ps 105 15    Ps 121 3
Jer 15 19    Pred 7 22    Jes 54 15-17    Jes 58 6    Jes 30 15
Mt 5 22    Apg 4 29    Gal 6 25    2 Tim 2 24    1 Joh 3 14-15    Röm 12 18-21

Wer die Rache ganz Gott überlassen kann (die auch nur er ganz gerecht auszuüben vermag) und wer auch gegen seine Feinde "kein falsches Zeugnis redet", der wird es sicherlich jedes Mal erleben, dass die Vergeltung erfolgt und dass er von seinen Feinden nur Vorteil gehabt hat. Dies sagen auch die "letzten Worte Davids" (2 Sam 23) sehr tiefsinnig: "Das Nichtswürdige ist nur ein haltloser Dorn, der vom Winde weggeweht wird, den man mit Gewalt wegzunehmen gar nicht nötig hat. Wollte menschliche Kraft den Kampf mit diesen Dornen aufnehmen, so müsste sie allerdings mit eiserner Waffe und Rüstung sich versehen. Aber sie werden von dem Feuer göttlicher Schickungen verbrannt – verbrannt in vollster Ruhe" (Übersetzung von Hirsch). Das ist der Trost aller Guten in dieser Welt voll Ungerechtigkeit.

Es wird aber wohl niemand, der sich selbst kennengelernt hat, behaupten, dass er in der Kunst des Umgangs mit Feinden schon ein ausgelernter Meister sei. Das wichtigste Hilfsmittel zur Erlernung dieser Kunst ist, neben einigen tröstlichen Erfahrungen, der ernste Vorsatz, den unnützen Zorn und die eigene Ungerechtigkeit in der Beurteilung der Gegner möglichst zu vermeiden und niemals wirklichen Hass sich in der Seele festsetzen zu lassen. Das ist im allerersten Augenblick der Beleidigung leicht ausführbar, später, wenn der Hass sich einmal im Herzen befindet, schwerer. Dazu ist es sehr nützlich, sich von vornherein klar vorzustellen, dass man doch – und zwar siebzigmal siebenmal (Mt 6 15, Mt 18 22) – vergeben müsse. Dieser Gedanke erleichtert den Entschluss sehr, sich darauf von vornherein gefasst zu machen und daher lieber gar nicht mit einem eigentlichen Hass zu beginnen.

Noch andere erleichternde Erwägungen sind folgende:

Auf Erden siegt nicht immer die Wahrheit, besonders nicht die in einem Menschen verkörperte Wahrheit, denn die ist mit all seinen Schwachheiten und Irrtümern vermischt und kann eben deshalb nicht immer siegen. Aber Gott siegt, und gegen seinen Willen geschieht nichts. Das allein ist der wahre Trost in diesen Anfechtungen.

Die Feinde, die Gott einem Menschen schickt, nimmt er auch wieder weg, sobald sie ihren Zweck erfüllt haben (Jes 41 10-13, Jes 54 14-17). Tröstlich ist dabei Spr 16 4: "Der Herr macht alles um seiner selbst willen, auch den Gottlosen zum bösen Tage." Gott hüllt den Gerechten in sein Wohlgefallen, das ihn "wie ein Stachelschild schützend umgibt" (Ps 5 13). Ebenso das Wort Mk 15 29: "Die vorübergingen, lästerten ihn", und Spr 16 7: "Wenn jemandes Wege dem Herrn wohlgefallen, so macht er auch seine Feinde mit ihm zufrieden." Das ist ein ganz sicheres Zeichen des Gnadenstandes.

Es ist viel besser, das Böse, das einem widerfährt, zu vergessen, als es zu verzeihen. Dem Verzeihen hängt leicht noch ein Rest von Bitterkeit oder ein gewisser Hochmut an, ein sich Hinwegsetzen über "unbedeutende" Beleidiger.

Grollen, Nachtragen, Übelnehmen ist immer Zeichen einer kleinlichen Seele (Spr 20 22). Lieber noch räche dich. Ohnmächtiger Hass ist ganz unwürdig und überdies etwas, das nur dir selbst, nicht dem Gegner schadet. "Wer Zorn zu stillem Groll werden lässt, der hat eine zu große Meinung von sich selbst und entbehrt der Herzensgüte" (Hirsch, Gebete Israels S. 604). Vergleiche auch Spr 24 17-18.

In den Urteilen der Gegner ist meistens ein richtiger Kern von Beobachtung, wenn auch in zu scharfer und einseitiger Beleuchtung. Daher tut man immer gut, auf die gegnerischen Urteile zu hören, sollte sie aber nicht zu hoch anschlagen und nicht schwer empfinden (Pred 7 21-22). Man darf sich von ihnen auch niemals beeindrucken lassen; das ist stets ein Fehler.

Dass die Menschen schlecht von uns reden, ist hart, aber es bewahrt uns, wie Thomas von Kempen3 sagt, "vor dem Zauberdunst der eitlen Ehre" und zwingt uns, Gott, der unter Innerstes kennt, als Zeugen und Richter zu suchen. Dann erst wird er uns unentbehrlich (Hiob 19 25) und fest mit uns verbunden. Ein solcher Durchgang durch Schmach ist daher besonders für Menschen notwendig, die nachher viel Ehre ohne Schaden ertragen sollen (Lk 22 37, Lk 24 26, Joh 8 18, Jes 53 12, Spr 18 12, Spr 16 18, Spr 15 33).

Man kann somit auch durch Klugheit, nicht bloß durch Religion, dazu kommen, die Feinde nicht zu hassen, denn sie werden nicht nur oft später Freunde, sondern man verdankt ihnen sehr viele richtige Anschauungen (wogegen diejenigen, die anfangs sehr lieblich tun, oft später anders reden). Besonders jene, die einem in bedeutenden Dingen entgegenwirken, sind stets schonend anzufassen. Dies sind Leute, die ernste Zweifel haben und belehrt werden können. Die Gleichgültigen, die gar nichts einwenden, aber auch nicht hören, sind die weit gefährlicheren Gegner.

Überhaupt besteht der richtige Leitgedanke beim Verhalten gegen Feinde nicht darin, dass sie vernichtet werden müssen – was in den meisten Fällen auch gar nicht möglich ist –, sondern dass sie versöhnt werden (2 Sam 21 3). Wer das beständig vor Augen behält, wird nie zu heftig hassen und vieles mit Schweigen erledigen, was durch Besprechen nur schlimmer würde.

Mit Feinden muss man daher, wo immer möglich, in bester, gefasstester Stimmung verkehren. Wenn wir innerlich unruhig sind, sind wir auch viel geneigter zu ungünstiger und ungerechter Beurteilung anderer. Man darf sich ihnen gegenüber aber auch nicht selbst verleumden, um ihren guten Willen zu erzwingen. Das gelingt selten. Schon eine allzu große Gütigkeit vertragen manche Menschen, ja sogar manche Völker, überhaupt nicht.

Deshalb ist es eine große Klugheit, mit grundsätzlichen Gegnern seiner Lebensauffassung nicht häufig und nie unnötig zusammenzukommen (5 Mos 33 28). Denn entweder büßt man dabei etwas an seinem Charakter ein, oder es entsteht daraus eine Erweiterung der Kluft. Auch Leute zusammenbringen zu wollen, die man beide schätzt, die aber nicht zusammenpassen, ist eine sehr verkehrte Freundschaftspolitik mancher Menschen.

Was soll man denn aber hassen, oder soll man überhaupt alles begreifen und verständlich finden? Ich bin weit davon entfernt, das zu befürworten. Es gibt auf der Welt aber noch Hassenswertes genug, mit dem Krieg geführt werden kann und muss. Das ist vor allen Dingen die grundsätzliche Schlechtigkeit, der Geist, der dem Geist Gottes absichtlich entgegenstrebt und das Gute um seiner selbst willen verfolgt und zu vernichten trachtet. Diesen Geist hasse nur frisch und offen, wo und in welcher Gestalt er sich auch immer zeigt. Er stirbt aber in den Menschen, die ihn verkörpern, meistens schon in der dritten und vierten Generation aus, wenn er sich nicht – was auch oft der Fall ist – in ihren Nachkommen ändert.

Solchen Schlechten, denen Gott selbst nicht vergibt, etwa noch zu helfen oder zwischen ihnen und den Guten "unparteiisch" sein zu wollen, statt den Letzteren in jedem solchen Kampf beizustehen, ist eine schwere Schuld, die sich an jedem rächen wird, der sie begeht (Mt 12 31-32, Jos 11 20, 2 Chr 19 2).

Die Grenzen der Friedfertigkeit gibt Hirsch in den "Gebeten Israels" folgendermaßen an: "Wenn du zuerst durch Meiden des Schlechten in Gedanken, Wort und Tat und durch Übung des Guten Gott gegenüber deiner Pflicht gerecht bist, dann suche auch den Frieden mit Menschen, jage ihm nach, lasse ihn dir nicht entgehen, wenn er zu entfliehen droht, erhalte ihn selbst mit Aufopferung, wenn er zu entfliehen im Begriff ist. Nur was unser ist, worüber wir zu verfügen haben, unsere Interessen, unseren Vorteil, unsere Ansprüche, unsere Ehre dürfen, ja sollen wir in gar vielen Fällen um des Friedens willen opfern. Aber kein Friede mit Menschen kann unseren Zwiespalt mit Gott und unserer Pflicht aufwiegen, sondern wir müssen bereit sein, selbst die Gegnerschaft und Feindschaft einer ganzen Welt auf uns zu laden und mit Gott und unserem Pflichtbewusstsein allein zu bleiben." Das meint auch Christus mit den Worten, er sei nicht gekommen, Friede zu senden auf Erden.

Gegen verurteilte Menschen zu kämpfen ist jedoch, wie schon Spurgeon in einer seiner schönsten Predigten sagt, eine ernste Sache. Man ist dann gleichsam der Vollstrecker höherer Urteile und darf nichts Menschliches von sich aus dazutun und um keinen Zoll breit über die Order hinausgehen. Sonst riskiert man, dass Gott ihnen wieder ein wenig hilft, und das wäre der schlimmste Fall, gegen den jeder andere weniger zu fürchten ist.

Ein jüdischer Weiser, Schemuel der Jüngere, sagt darüber: "Wenn dein Feind, der dich verfolgt, fällt, freue dich nicht. Wenn er sittlich strauchelt, frohlocke nicht, dass nun die Welt sieht, wie er ist. Gott, der diese Feindschaft zu deiner sittlichen Verbesserung zugelassen hat, würde es sehen und seinen Zorn über ihn wieder zurücknehmen." Es ist übrigens ein sehr schwerer Augenblick im Leben, wenn man die offene Todfeindschaft des Bösen, in Menschen verkörpert, gegen sich gerichtet sieht. Der Trost ist der, dass das Böse gerichtet ist und nicht mehr zur Herrschaft in der Welt gelangen kann, wo immer ihm Widerstand geleistet werden will.

Umgang mit Frauen

Ein sehr schwieriges Kapitel ist der Umgang mit Frauen, denn sie sind die Werkzeuge des Besten und des Schlechtesten, was in einem Menschen aufwachsen kann. Entweder verkörpern sie die schrankenlose Genusssucht und die völlige, grundsätzliche Abwendung von allem Höheren und Edleren, die durch sie besonders in jungen Leuten entsteht und die Hauptursache des Verfalls ganzer Nationen bildet. Oder sie verkörpern eine wirksame Erhebung über die natürlichen Anlagen eines Menschen zu einer ganz anderen, freieren und besseren Lebensanschauung. Dabei irren die meisten Beurteiler der Frauen darin, dass sie von ihnen wie von einer einheitlichen, im Charakter übereinstimmenden Masse sprechen, während gerade umgekehrt bei diesem Teil des Menschengeschlechts eine bei weitem stärkere Aufgliederung in zwei gesonderte Klassen stattfindet (und eine viel konstantere Beibehaltung und Vererbung der guten wie der schlechten Eigenschaften).

In einer sehr eigentümlichen Stelle unterscheidet schon das Alte Testament im frühesten Lebensalter der Menschheit die "Kinder Gottes" von den "Töchtern der Menschen", denen es zwar nicht an äußerem Reiz fehlt, die aber gerade dadurch zum Unsegen werden (1 Mos 6 2).

Dieser Unterschied ist noch heute vorhanden, und der erste Rat lautet daher: Verkehre nicht unnötig mit den "Töchtern der Menschen" und hüte dich vor jeder näheren Verbindung mit ihnen. Achte nicht auf das, was die Poeten darüber sagen mögen, denn die sind oft von deren eigentümlichem Reiz bezaubert. Der größere Teil der sogenannten erotischen Poesie ist überhaupt nur ein schimmerndes Gewand für eine schlechte und hässliche Sache. Gerade die besten und selbstlosesten aller Frauen, die Großmütter, die jeder liebt, der eine besessen hat, werden von den Dichtern am wenigsten besungen. Auch die kleinen Mädchen findet man in der Poesie nicht häufig (die kleine Obilot im Parzival ist ein sehr vereinzeltes Beispiel), und doch sind sie – unegoistisch angesehen – in diesem Alter liebenswürdiger als in ihrer späteren, vielbesungenen Jugend. Die Knechtschaft, in die ein edelgearteter Mann durch eine ungehörige Neigung geraten kann, ist in "Tristan und Isolde" von Gottfried von Straßburg am besten beschrieben, am edelsten und großartigsten aber in den Königsidyllen von Tennyson. Das ist wahre Poesie.

Andererseits wäre der Unterschied zwischen Frauen und Männern nicht so groß, wenn die Erziehung und vor allem die Rechtsstellung beider Teile ähnlicher wären, wonach Politik und Pädagogik heute streben4. Daher gelten für die Frauen und ihren Umgang mit Männern im Allgemeinen die gleichen Regeln wie jene, die hier für Männer aufgestellt sind. Allerdings wird man eine Frau kaum durch den Verstand belehren müssen, dass es unzweckmäßig sei, eine Verbindung mit einem ihrer ganz unwürdigen Mann einzugehen.

Das Christentum macht jedenfalls keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Schon das Alte Testament kennt Frauen (sogar verheiratete), die die allerhöchsten Staatswürden bekleideten, und zwar nicht etwa infolge Erbrechts, wie heute, sondern lediglich kraft ihres inneren Wertes, des Geistes, der in ihnen wohnte (Ri 4 4, 2 Kön 22 14, Neh 6 14). Der "Geist Gottes" kann ohne Zweifel in jedem Menschen wohnen, und das ist das Entscheidende – nicht die körperliche Beschaffenheit.

Es gibt nebenbeibemerkt außerhalb der Bibel keine anderen Schriften, die im Ganzen genommen eine höhere Achtung vor dem weiblichen Geschlecht bezeugen und dessen geistige und sittliche Hebung so sehr im Auge und tatsächlich befördert haben. Die Frauen, die gegen die christliche Religion voreingenommen sind und sich bloß auf Humanität, Philosophie, Naturwissenschaft oder das künftige Recht verlassen, sind nicht nur sehr undankbar oder unwissend – sie werden sich auch in ihren Erwartungen täuschen. Die Religion allein verbürgt ihnen auf Dauer eine menschenwürdige Lebensstellung und zunehmende Gleichberechtigung. Sie sinken in den Augen der Männer sofort herab, wenn sie diesen Halt aufgeben.

Bei Frauen fällt die Menschenkenntnis im Allgemeinen leichter als bei Männern. Frauen untereinander kennen sich meistens sehr gut, was bei Männern untereinander lange nicht in diesem Grad der Fall ist. Eine Frau täuscht aber auch keinen Mann auf Dauer, so dass er wirklich böse für gut hält, sondern nur so, dass er das Böse wegen seines sinnlichen Reizes dem Guten vorzieht – in der falschen Hoffnung, dass dieser Reiz ein dauernder und beglückender sein werde. Für die Frauen gibt es daher nur ein Mittel, fortwährend als etwas zu erscheinen, was sie wünschen: nämlich das, es zu sein. Dagegen ist es für sie schwerer, aber auch um so verdienstlicher, geistvoll, gut und edel zu sein, denn statt Anerkennung dafür zu ernten, müssen sie sehen, dass oft das gerade Gegenteil mehr geschätzt und gesucht wird. Eine wahrhaft edle Frau steht daher auf einer höheren Stufe sittlicher Vollkommenheit als der beste Mann.

Auf die Frauen ist vorzugsweise anwendbar, was von den Menschen überhaupt gilt: Diejenigen, die nichts Schweres erlebt haben, sondern nur auf den Genuss des Lebens eingerichtet sind, bleiben oberflächlich und mittelmäßig. Bei den Frauen ist dies Letztere sogar in höherem Maße der Fall, weil ihre ganze heutige Erziehung in den sogenannten gebildeten Ständen dahin neigt, ihnen einen feineren Lebensgenuss als eigentliches Ziel ihres Daseins erscheinen zu lassen. Daraus entsteht ein naiver und gedankenloser Egoismus, der die ganze Welt nur als eine schöne Wiese ansieht, auf der die Frauen alle Blumen zu pflücken haben, um sich damit zu schmücken und selbst zu gefallen. Damit übertreffen sie den männlichen Egoismus oft weit, darüber darf die liebenswürdigere Außenseite nicht hinwegtäuschen.

Wenn der gedankenlose Egoismus anfängt, in einen bewussten überzugehen, werden die Frauen rasch schlecht und, wenn sie schön sind, zu den gefährlichsten Werkzeugen des Bösen auf Erden. Dann ist es Zeit, diesem Zauber entschieden zu widerstehen, wo immer er sich breitmachen will, und seine Macht nicht gelten zu lassen. Koketten oder übermäßig herausgeputzten Frauen darf man daher gar keine Aufmerksamkeit schenken; das ist für sie und für einen selbst das Beste.

Den Charakter einer Frau kann man sehr gut an ihrem Verhalten zu den Blumen erkennen. Ein Mädchen, das auf Spaziergängen so viele Blumen wie möglich an sich rafft und am liebsten keine für andere übrig lassen würde, ist zur Habsucht und Genusssucht geneigt. Eine Dame, die es über sich bringt, eine schöne Blume oder einen ganzen Strauß nach kurzer Beachtung liegen und verwelken zu lassen, statt sie in Wasser zu stellen, oder einem armen Kind damit noch eine Freude zu bereiten, hat kein warmes Herz. Wenn sie gar Blumen zerreißt und zerpflückt, wird sie später auch nicht weniger egoistisch mit Menschen umgehen, die ihr anvertraut werden.

Noch schlimmer steht es um die Herzenseigenschaften derjenigen Frauen, die eine harmlose Mücke, die sich am Fenster sonnt, mit dem Finger zerdrücken oder ein Würmchen oder Käferchen, das ihnen über den Weg kriecht, absichtlich zertreten. Sich von denen völlig fernzuhalten, ist sehr ratsam, wie auch von all denen, die auffallend angezogen sind. An einer echten Dame darf in der Kleidung gar nichts auffallen, weder ein Zuviel noch ein Zuwenig.

Die richtige Behandlungsweise der Frauen ist im Ganzen die mit Gefühl und Wärme. Zu einem bloß verstandesmäßigen Umgang sind sie seltener geschaffen, und diejenigen, die es sind, sind in der Regel nicht sehr liebenswürdig und innerlich unbefriedigt. Selbst eine recht gescheite Frau ist ein unbedingtes Glück nur für einen mindestens ebenso gescheiten Mann, und sie ist selber nie glücklich, wenn sie das stete Gefühl hat, ihn weit zu überblicken. Leidenschaftliche Frauennaturen sind ein großes Glück für den, der mit ihnen ohne Schuld umzugehen versteht. Sonst aber sind sie ein Feuer, das zwar Licht und Wärme verbreitet, aber auch das eigene Haus und andere Häuser verzehren kann. Sehr ruhige dagegen werden leicht allmählich etwas insipid5, um nicht das deutsche Wort dafür zu gebrauchen.

Was die Frauen an den Männern am meisten schätzen, ist Kraft, deren völlige Abwesenheit sie nie verzeihen. Daher auch die Vorliebe vieler Frauen für den Krieger und Soldaten. "Ein Lämmlein im Hause und draußen ein Leu6", wie Anna Nitschmann, die zweite Frau Zinzendorfs, sagt. Die schwärmerischen Anbeter in der Art des armen Brackenburg in Goethes "Egmont" kommen bei ihnen niemals zu ihrem Recht. Frauen schätzen sogar die Männer, die sie schlecht behandeln oder missachten, mehr als die schwachen. Deshalb wird zum Beispiel Schopenhauer viel von ihnen gelesen. Wenn man sich bei ihnen sicher in Gunst setzen will, muss man sie zuerst zornig machen und nachher streicheln. "Frauendienst" ist stets eine Dummheit, wenn er nicht eine wohlberechnete Schlauheit ist. Den ehrlichen Minnesängern geht es stets wie Ulrich von Liechtenstein7 oder dem Pelleas8 in Tennysons "Königsidyllen": Die rechten Frauen haben immer einen gewissen Verdacht, es stecke entweder Berechnung auf ihre Eitelkeit – oder Dummheit dahinter.

Am unglücklichsten fühlt sich eine edle Frau, wenn sie durch eigene schlechte Wahl oder durch die Torheit ihrer Angehörigen an einen Schwächling geraten ist, der durch ein beständiges kleinliches Herrschen im Haus seine Unmännlichkeit gegenüber der Außenwelt ausgleichen will. Für diese Haustyrannen, denen gegenüber gerade die besten Frauen wehrlos sind und die sich nur von stärkeren Egoistinnen regieren lassen, hätte Dante noch eine besondere Höllenstrafe erfinden müssen.

Damit sind wir schon auf die Ehe gekommen, der besten Verbindung, die Männer mit Frauen eingehen können, die nicht ohnehin zur Familie gehören. Es ist eine der Hauptursachen des Verderbens unserer Zeit, dass die Ehe (nicht am wenigsten durch die Genusssucht und falsche Erziehung der Frauen selbst) einem großen Teil der gebildeten Männer erschwert ist, so dass sie gar nicht oder nicht zur rechten Zeit dazu gelangen. Ja, es hat sich daraus in den "zivilisierten" Völkern sogar der für die Stellung der Frauen ungünstige Umstand ergeben, dass sie gar nicht mehr um ihrer selbst, sondern nur um ihrer Mitgift willen geschätzt werden.

Wer wollte sich auch in der Tat sein Leben lang mit Sorgen Plagen, um ein eitles, putz- und genusssüchtiges Ding zu erhalten, während er sich mit den gleichen Mitteln ein weit angenehmeres Leben verschaffen kann. So lautet jetzt der ziemlich verbreitete Leitspruch bei den jüngeren Herren der Schöpfung, die im Ganzen überhaupt zu wenig Opfersinn besitzen.

Heute ist es so, dass der Mann mit der Ehe gewöhnlich eine Verbesserung seiner ökonomischen Situation anstrebt oder (in weniger "gebildeten" Verhältnissen) eine unbesoldete Arbeitssklavin sucht. Die Eltern der Frau dagegen wollen ihre Tochter in eine wenn auch noch so klägliche Lebensversicherung einkaufen, und die Frau selbst vergisst über den augenblicklichen Triumph einer sozialen Beförderung ihre spätere traurige Rechtlosigkeit. Ob die Ehe es verdient, unter solchen Verhältnissen stets eine "göttliche" Institution genannt zu werden, ist zweifelhaft. Es ist im Gegenteil eines der traurigsten – obwohl alltäglichen – Schauspiele, ein feines, hochgebildetes Mädchen in der fast schrankenlosen Gewalt eines mittelmäßigen Jünglings zu sehen, bloß weil manche Mütter es heute noch für eine Art von Schande ansehen, ihre Töchter unverheiratet zu behalten.

Man sollte daher auf den schon öfter gemachten Vorschlag eingehen, die Hochzeiten erst nach sieben Ehejahren festlich zu begehen – wenn es dann noch der Mühe wert erscheint –, die Sache selbst aber jedenfalls mit viel größerem Ernst beginnen lassen, als es jetzt gewöhnlich der Fall ist. Ein romanisches Bündner-Sprichwort sagt: "Bei einer jungen Ehe geht der Teufel sieben Jahre um das Haus herum." Das heißt, erst nach sieben Jahren weiß man, ob er hineingelangt ist oder endgültig draußen bleibt.

Dass die meisten Frauen gern heiraten, ist begreiflich, weil sie allein in einer guten Ehe Gelegenheit haben, alle in ihnen liegenden Kräfte selbständig zu entfalten. Leider haben die egoistischen unter ihnen, die sich rechtzeitig auf einen zweckmäßigen Verteidigungsfuß zu stellen wissen, sehr oft ein besseres Schicksal als die guten, die eine Unsumme von Liebe, Treue, Aufopferungsfähigkeit, Geist und Leben an einen fragwürdigen Menschen verschwenden. Die einen lassen sich darauf ein, weil sie sich ein unrichtiges Fantasiebild von ihrem Mann gemacht haben, die anderen, weil sie fälschlicherweise glauben, ihn verbessern zu können. Doch dafür müssten sie selbst einen anderen Charakter haben und von vornherein ganz andere Mittel anwenden.

Es gibt viel mehr unglückliche Ehen, als man glaubt und sieht, und in der Mehrzahl der Fälle trägt der Mann die erste und hauptsächlichste Schuld. Dies ist eine der trübseligsten Erfahrungen des Menschenlebens, die am meisten an der Gerechtigkeit Gottes irremachen könnte. Niemals sollte sich daher eine Frau ganz unter ihrem Stand verheiraten, niemals in eine ganz ungebildete Familie, niemals an einen sittlich nicht ganz zweifellosen, kleinlich-egoistischen oder gar nicht gutmütigen Mann und in der Regel auch nicht außerhalb ihres Landes und ihrer Nationalität. Dagegen ist für die Männer, die ernstlich aufwärts streben, die Verbindung mit einer hochgesinnten und in besserer Lebensstellung befindlichen Frau das geeignetste Mittel, um rasch vorwärtszukommen.

Ob es daneben zweckmäßiger sei, in einer guten Ehe ruhige Achtung und Freundschaft oder leidenschaftliche Liebe zu suchen und zu finden, wird stets bestritten bleiben. Wir würden uns, im Sinne einer allgemeinen Regel, für das Erstere entscheiden, aber – wer das Letztere nicht kennt, weiß nicht, was Leben ist.

Unzweifelhaft gehört der richtige, unegoistische Umgang eines Mannes mit einer braven und geistvollen Frau seines engsten Lebenskreises – Frau, Mutter, Schwester, Tochter und nicht am wenigsten Großmutter und Enkelin – zu den allerhöchsten, zartesten und lautersten Freuden dieses Lebens und bildet Eigenschaften in ihm aus, die sonst auf immer brachliegen bleiben. Eine Heirat ist lange nicht immer ein Glück zu nennen, aber ein alter Junggeselle ist jedenfalls auch nie das, was aus ihm geworden sein könnte und sollte.

Schlussbetrachtung

Im Ganzen, lieber Leser, suche die Menschenkenntnis nicht zu sehr auf theoretischem Weg. Den größten Teil erlangt man nur durch eigene, und meistenteils durch traurige Erfahrungen. Nimm dir bloß vor, nichts zweimal zu erfahren. Das sind die wahrhaft Klugen – nicht jene, die keine Fehler machen, wenn es überhaupt so etwas wie Fehler gibt.

Auch darf die Menschenkenntnis nie bloß dazu dienen, die Böcke von den Schafen zu unterscheiden, um sich fortan nur um die Letzteren zu kümmern. Sie muss uns vielmehr dazu dienen, uns nicht täuschen zu lassen und an unserer eigenen Verbesserung und der aller anderen Menschen, mit denen uns das Schicksal in Berührung bringt, mit Verständnis ihres Charakters arbeiten zu können. Denn wenn man einmal von dem Gedanken ablässt, dass jede einzelne Menschenseele einen unendlichen Wert hat und aller Mühe des Rettens würdig ist, dann befindet man sich auf einer schiefen Ebene, auf der man allmählich wieder bei völligem Egoismus anlangt.

Das letzte Wort der Menschenkenntnis muss Liebe zu allen sein. Sie allein erträgt es, den Menschen genau zu kennen, wie er ist, und ihn nicht zu meiden. Die Menschenkenntnis ohne Liebe ist stets ein Unglück und der Grund der tiefen Schwermut mancher Weisen aller Zeiten gewesen. Sie mussten dann entweder auf den Umgang mit ihresgleichen verzichten oder zum Tyrannen werden. Denn mit den Menschen ist schließlich, wenn man sie einmal kennengelernt hat, nur auf zwei Weisen zu verkehren: durch Furcht oder durch Liebe. Alle Mittelwege sind Täuschungen.

Wer aber zuletzt an die Furcht appelliert oder die Liebe nur im Mund führt, der höre darüber den Bruder Jacobus de Benedictis9: "Dass ich meinen Nächsten liebe, weiß ich nur, wenn ich ihn nach Beleidigungen nicht weniger liebe als zuvor. Denn wenn ich ihn dann weniger liebte, so würde ich dadurch beweisen, dass ich vorher nicht ihn, sondern mich geliebt habe."

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Schmerzlich schwankt des Menschen Seele,
Wenn Zweifel bitter sie bedrängt,
Sei’s auch dass Mut sich ihm vermähle,
Die Farben bleiben doch gemengt.
Weiß und schwarz, auf und nieder,
Wie der Elster bunt Gefieder,
Heitrer Himmel, dunkle Hölle,
Haben beide an ihm teil.
(Doch) nur ein untreuer Geselle
Verliert sein ganzes Heil.
Sein Herz ist schwarz, voll List und Tücke;
Weiß aber ist der Mann mit treuem Sinn,
Ihn führt sein Glaube hoch zum Himmel hin.


  1. Vgl. 2 Mos 17 16

  2. Originalzitat: "Parcere subjectis et debellare superbos" (aus dem Epos Aeneis von Vergil) 

  3. Thomas von Kempen oder Thomas a Kempis, war ein geistlicher Schriftsteller des 15. Jahrhunderts. Vgl. Wikipedia-Artikel

  4. Carl Hilty setzte sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in der Schweiz für die politische Gleichstellung von Frau und Mann und insbesondere für das Frauenstimmrecht ein. 

  5. Das Wort "insipid" stammt aus dem Lateinischen und bedeutet schal oder fade. Im Hinblick auf einen Menschen könnte man es heute wohl am ehesten mit "langweilig" übersetzen. 

  6. Dichterischer Name für den Löwen 

  7. Ein mittelalterlicher Dichter und Minnesänger. Vgl. Wikipedia-Artikel

  8. Ein Ritter der Tafelrunde in der Artuslegende. Vgl. Wikipedia-Artikel

  9. Jacopone da Todi, ca. 1200–1306. Vgl. Wikipedia-Artikel