Über Menschenkenntnis (1. Teil)

(aus Carl Hilty: »Glück«, Teil 2, Leipzig/Frauenfeld 1907)

Dass es eine für unser praktisches Leben wichtige Angelegenheit ist, die Menschen zu kennen und richtig zu beurteilen, hat wohl noch niemand bezweifelt. Ob die Menschenkenntnis aber eine sehr glückbringende Kenntnis ist, darüber sind die Ansichten schon seit alter Zeit verschieden. Während die einen behaupten, die Menschen liebe jedenfalls nur der, der sie nicht kennt, meinen andere (wie der Herzog in Goethes Tasso), die Menschen fürchte nur, wer sie nicht kennt. Goethe selbst scheint sich von dieser Auffassung in einem anderen von ihm erhaltenen Ausspruch doch wieder teilweise zu trennen, indem er sagt, es sei zwar nichts interessanter, als die Menschen kennenzulernen, aber man müsse sich davor hüten, sich selbst zu kennen.

Ich glaube meinerseits, dass alle Menschenkenntnis, die des eigenen Menschen eingeschlossen, nur etwas Annäherndes erreichen kann, und dass die wirklichen Tiefen der menschlichen Seele, vor allem die Grenzen der Möglichkeiten zu Gut und Böse, die in ihr liegen, nur Gott allein vollständig bekannt sind.

Daneben aber beruht, so sonderbar das im ersten Augenblick klingen mag, die Menschenkenntnis auf einem Grund von Pessimismus, verbunden mit einem bedeutenden Grad von Menschenliebe. Wer die Menschen für etwas Vorzügliches und Großes hält – nicht bloß im Hinblick auf Berufung und Anlage, sondern auch im Hinblick auf Kraft und tatsächliche Ausführung –, der wird, wenn er nur einigermaßen klug ist, seine Lebenserfahrungen mit Enttäuschung abschließen. Dagegen sind die vollkommensten Menschenkenner (Christus selbst an ihrer Spitze) erfahrungsgemäß immer Menschenfreunde. Denn sie betrachten den Menschen als ein zwar durchaus nicht frei- und edelgeborenes, aber zu Freiheit und zu edler Lebensgestaltung berufenes Wesen und können ihn daher trotz, ja man möchte sogar sagen, wegen seiner Mängel lieben, weil eben der Liebe, wenigstens so wie sie auf Erden und für die Erde besteht, das Bedürfnis des Erbarmens, Rettens und Wohltuns unmittelbar innewohnt.

Daraus ergibt sich die erste Voraussetzung aller Menschenkenntnis: Diese ist nur möglich bei einer sehr bedeutenden Unabhängigkeit und Bedürfnislosigkeit des Beobachters beziehungsweise bei einer möglichst großen Abwesenheit von Egoismus. Wer von den Menschen viel für sich wünscht, wird stets durch dieses Interesse verblendet werden, und wer sie notwendig braucht, wird sie stets auch fürchten. Wer hingegen eher für sie etwas leisten als von ihnen empfangen will, der allein kann sie ohne Furcht und übermäßige Neigung wirklich kennenlernen, wie sie sind, und diese Kenntnis auch in ihren schlimmsten Teilen ohne den Menschenhass ertragen, zu dem sonst jeder leicht gelangt, der kein Schwächling ist.

Ein gründlicher Menschenkenner ohne Liebe wäre auch in der Tat unerträglich. Die Abneigung gegen solche, die es zu sein behaupten und daneben doch Menschenhasser sind, ist ganz natürlich und in einem Recht der Selbstverteidigung begründet. Das Gebäude deines Glücks stelle daher nicht auf die Menschenkenntnis, sondern wünsche nur die Menschen richtig beurteilen zu lernen, um ihr Glück besser befördern zu können. Mit einer anderen Gesinnung würdest du auch nie zu erheblichen Erfolgen in dieser Kunst gelangen.

Aus diesem Grund sind alle Betrachtungen über den Umgang mit Menschen, die entweder bloß auf der Grundlage der sogenannten "Humanität" beruhen oder die Menschenkenntnis zu egoistischen Zwecken lehren wollen, nicht sehr viel wert. Das Letztere ist besonders gegen das berühmte Büchlein des Freiherrn von Knigge "Über den Umgang mit Menschen" einzuwenden. Überhaupt kannten unsere Großväter die Menschen nicht sehr gut. Nicht allein die Führer der Französischen Revolution, sondern alle damaligen Schriftsteller haben entweder eine sentimentale Schwärmerei für sie oder einen finsteren und unbegründeten Menschenhass, manchmal beides abwechselnd.

Der erste Schritt zur Menschenkenntnis, soweit sie überhaupt möglich ist, ist (ganz im Gegensatz zu Goethes Ansicht) Selbstkenntnis und Selbstverbesserung, der zweite der Entschluss, die Menschen um ihret-, nicht um seinetwillen kennenzulernen. Danach darf man aber drittens, wie schon oben gesagt, keine ganz vollständige Kenntnis eines so komplizierten Wesens erwarten, das sich nicht einmal selbst, oder höchstens sehr spät einigermaßen kennenlernt und bei dem kein Individuum dem andern völlig gleicht. Vielmehr muss man sich mit einer Anzahl von Erfahrungssätzen begnügen, von denen ich später versuchen will, einige dem Leser zu eigener Überlegung und Ergänzung vorzuschlagen.

Das eigentliche Geheimnis der Menschenkenntnis ist ein lauteres, von Eitelkeit möglichst freies Herz. Solche Leute gewinnen allmählich einen Scharfblick, der durch alle Hüllen geht. Schon der Chinese Laotse sagte um 600 v. Chr.: "Menschenliebe und Freiheit von Ehrgeiz machen frei und unbefangen vor den Menschen." Nur ein Geist, der für sich nichts will und sucht, kann Menschen und Zustände in wahrer Objektivität verstehen (Spr 20 12, Spr 21 2, Spr 21 21, Spr 21 30, Spr 22 10).

Freilich ist damit der Weg zu diesem Ziel noch nicht gezeigt. Das richtige Verhältnis zu den Menschen und die Freude an ihnen ohne egoistische Hintergedanken entsteht nur durch die göttliche Liebe. Der natürliche Mensch fürchtet den Nebenmenschen und liebt ihn nur aus egoistischen Ursachen oder auf Gegenseitigkeit. Die göttliche Liebe ist aber eine der größten Gnaden Gottes, die man sich nicht selbst geben oder verschaffen kann. Sie kommt, wenn man den Willen Gott übergeben hat, so dass er uns führen kann, wie er will, und vorher geht es durch die "Wüste der Berechtigung" hindurch, wie die Mystiker des Mittelalters es nennen, und durch einen wahren Glutofen der Schmelzung des bisherigen harten Herzens.

Die Schwierigkeit der Menschenkenntnis besteht somit nicht in den Feinheiten einer Wissenschaft, der "Psychologie", sondern nur in der Schwierigkeit eigener Selbstlosigkeit. Man kennt alle die Menschen nicht, von denen man etwas zu hoffen oder zu fürchten hat, das heißt: denen man nicht unbefangen gegenübersteht. Auch die prophetische Gabe ist nichts anderes als ein noch verschärfter, ganz richtiger Blick in die menschlichen Verhältnisse, ihre Ursachen und Wirkungen. Er findet sich bei jedem Menschen, der sich in hohem Grad frei von sich selbst gemacht hat. Die Selbstsucht ist wie ein Nebelschleier, der dieses Sehen verhindert, das sonst an und für sich vorhanden wäre.

Den Umgang mit Menschen, der auf ihrer richtigen Beurteilung beruht, lernt man daher auch nicht durch häufigen Verkehr mit ihnen, wie manche Leute glauben, sondern in erster Linie durch den Verkehr mit Gott. Erst durch diesen fängt man an, Gute und Böse mehr mit den gerechten Augen Gottes zu betrachten, der seine Sonne über beide scheinen lässt. Ohne Vertrauen auf Gott muss man stets mehr oder weniger auf Menschen rechnen und wird dann stets Enttäuschungen an ihnen erleben.

In den Menschen, zumal in den besseren, ist ferner ein Bedürfnis der Verehrung vorhanden. Diejenigen unter ihnen, die nichts Übersinnliches verehren können, machen sich bedeutende Menschen nach ihrer Fantasie zurecht und verlieren in dieser Selbsttäuschung nicht bloß allen Sinn für wirkliche Menschenkenntnis, sondern fügen auch den von ihnen Verehrten, sofern sie noch am Leben und nicht selbst gute Menschenkenner sind, Schaden zu. Sobald der Glaube an Gott fehlt, kommt der Heroenkult mit all seinen Nachteilen für die innere und äußere Freiheit.

Ein solcher Kultus geht aber gegen das erste Gebot: "Du sollst keine Götter haben neben mir". Auch die antike Vorstellung vom "Neid der Götter", der sich gegen derart Verehrte wendet, ist nur ein Ausdruck für das ganz richtige Gefühl jedes ernsten Menschen, dass das nicht in Ordnung ist. Dieser Kultus ist daher auch beim einzelnen Menschen ein sicheres Indiz, dass es mit seinem Gottesglauben noch nicht ganz richtig steht. Andererseits liegt die wahre Qualifikation zu einem Herrscher unter den Menschen und daher zu einer legitimen Verehrung ausschließlich in der Abwesenheit der Selbstsucht (1 Mos 21 22, 1 Mos 23 6, 1 Mos 26 20-29). Egoisten sind nie von Gottes Gnaden.

Das kann übrigens jeder an sich selbst erproben: So oft man sich mit Gott in rechtem Frieden befindet, werden einem die Menschen sofort nach der Seite hin gleichgültiger, nach der man sie gewöhnlich am meisten zu schätzen pflegt: nämlich nach der Seite des Empfangens von ihnen. Man könnte sich leicht ganz von ihnen absondern, wenn nicht das Geben bliebe. Deshalb sind alle antike und mittelalterliche Einsiedelei ebenso wie aller moderne Pessimismus oder weltschmerzliche Aristokratismus in ihren Beweggründen stets etwas verdächtig. Es steckt meistens Verdruss über Nichtempfangenes oder Unlust zum Geben dahinter. Das empfinden auch die anderen, und darum sind sie solchen Zurückgezogenen im Allgemeinen nicht übermäßig geneigt.

Denn für nichts haben die Menschen einen feineren Instinkt als für die Selbstsucht – und gegen nichts eine größere innere Abneigung. Auch die Einfachsten, ja schon die kleinen Kinder und sogar die Tiere, finden sie rasch heraus, trotz allem Schein, mit dem sie sich umgibt. Wer einen starken und dauerhaften Einfluss auf die Menschen gewinnen will, darf schlechterdings nicht viel an sich denken und nur wenig für sich suchen. Das ist der sicherste Weg dazu. Deshalb lieben die Kinder die Großeltern oft mehr als die Eltern, weil sie fühlen, dass deren Liebe noch selbstloser ist. Die Eltern haben eben noch zu viel mit sich zu tun.

Auch die ärgsten Pessimisten suchen noch Liebe, und den Egoisten ist es im Grunde nicht Ernst mit ihrem Lob des Egoismus. Sie glauben nur nicht, dass ein Anderskönnen möglich ist, und lassen sich auch von anderen nur durch die fortgesetzte Tat belehren. Die bloßen Redensarten von Liebe sind ihnen längst geläufig, und sie schätzen sie nach ihrem durchschnittlich richtigen Wert. Man sollte daher mit ihnen gar nicht viel von Liebe sprechen – das wird nur missverstanden –, sondern höchstens von Freundlichkeit und allgemeinem Wohlwollen. Es scheint weniger und ist mehr. Das ist auch das, was absolut nötig ist, um in der Welt ohne Ekel an ihr zu leben, und was man sich daher um jeden Preis aneignen muss.

Ein Hauptpunkt für die Menschenkenntnis im Hinblick auf das Individuum ist die Kenntnis seiner Herkunft. Besonders Frauen folgen fast ausnahmslos dem Charakter ihrer Familie, Söhne in der Regel dem der Mutter oder des mütterlichen Großvaters, Töchter eher dem väterlichen Stamm. Das Sprichwort "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm" bezeichnet daher in der Tat eine starke Wahrscheinlichkeit. Nur kennt man oft den Stamm nicht hinreichend, und mit Gottes Gnade kann ein Mensch auch eine schlechte Ahnenreihe durchbrechen. Es gibt sicherlich keine "erblichen Belastungen", die diese Gnade und die menschliche Willensfreiheit völlig aufheben. Die Annahme eines solchen unabänderlichen Schicksals ist eine der größten Gotteslästerungen, deren sich ein Mensch schuldig machen kann.

Dagegen ist im obigen beschränkten Sinn eine gewisse aristokratische Anschauung berechtigt. Einzelne bedeutende Eigenschaften eines Menschen, wie Mut, richtiges Selbstgefühl, natürliche Freiheit von Menschenfurcht, feinerer Geschmack in der ganzen Lebensführung, wachsen in der Regel nicht in der ersten Generation von Menschen, die soeben erst vom Joch der Sklaverei oder Unterdrückung befreit worden sind; dazu gehört schon eine Vererbung. Ich habe wenigstens noch keinen Sohn sehr kleiner Leute gesehen, der nicht einen geheimen Respekt vor Adel und Reichtum hatte. Daher sind auch alle großen Bahnbrecher politischer und geistiger Freiheit selten aus der untersten Volksschicht gekommen, sondern aus einer bereits vorgebildeten Mittelschicht, oft genug sogar aus der Aristokratie selber. Es ist deswegen auch ein großer Fehler, beinahe ein Vergehen gegen seine Nachkommen, wenn ein höher gebildeter Mensch unter seinem Bildungsstand heiratet. Er geht dadurch wieder um eine Stufe zurück.

Dabei ist aber eine gewisse Gerechtigkeit gegen sich selbst und andere wohl am Platz, die besonders Eltern und Erzieher oft vergessen. Niemand kann leicht seine natürliche Anlage völlig umwandeln, viel leichter sie veredeln in ihrer Art. Das heißt, der Phlegmatische kann zur edlen Ruhe der Weisheit gelangen, der Lebhafte zur aufopfernden Tätigkeit für andere, der Cholerische zum kraftvollen Einstehen für alles Große. Eine falsche Beurteilung dieses Naturells oder Versuche, es zu brechen, führen gewöhnlich zu kläglicher Halbheit, wo sonst etwas Ganzes hätte entstehen können.

Die Menschen lernt man nur da recht kennen, wo sie tätig sind: die Männer im Beruf, die Frauen in ihrem Hauswesen; beide am besten in Schwierigkeiten und Sorgen, am wenigsten in der Geselligkeit, besonders etwa in Bädern und Sommerfrischen. Die Bekanntschaften, die man da macht, erweisen sich später oft als verfehlt. Überhaupt ist dies eine ungesunde Art des modernen Verkehrs. Man wird nicht bekannt miteinander und doch bekannt, wenn man alle Tage zusammen lebt und isst. Man kann sich nicht ganz zurückhalten, ohne hochmütig zu erscheinen, und sich nicht ganz geben ohne Gefahr, Verbindungen anzuknüpfen, die man sonst vermieden hätte.

Am leichtesten werden die Menschen an dem erkannt, was sie als eigentliches Ziel ihres Lebens betrachten. Besteht dies in Macht oder Genuss, ist ihnen nicht ganz zu trauen.

Im höheren Alter stellt sich das Lebensbild der Menschen gewöhnlich viel deutlicher heraus als früher. Die wirkliche Frömmigkeit zeigt sich im geduldigen Ertragen der vielfältigen Altersbeschwerden, die falsche in Ungeduld und in einer immer formaler werdenden Religion. Der Geiz, der Neid, die Habsucht, der Ehrgeiz, der Zorn, auch selbst mitunter die verborgene sinnliche Genusssucht treten mit elementarer, unbezweifelbarer Gewalt zu Tage als die in diesem Leben herrschenden Mächte, und der Mensch richtet sich selbst noch vor seinen Lebensgenossen. Selten führt jemand, wie Augustus, eine "Rolle" bis zum Ende durch, und auch diesem großen Schauspieler ist sie ja nicht gelungen. Ebenso kann niemand Cromwells letztes Gebet gelesen haben und ihn noch für einen Heuchler halten, falls er nicht selbst einer ist.

Schließlich gehören zur Menschenkenntnis auch Leiden. Bei jedem großen Leiden offenbaren sich die Gedanken der Menschen und tun sich, wie Bischof Sailer sagt, viele "sonst fest verschlossene Gemüter auf." Der Neid kommt zu Tage, der sich freut, wie der Edelmut, der hilft, und die Gleichgültigkeit, die vorbeigeht. Wer das nicht einmal im Leben gründlich selbst erfahren hat, der kennt die Menschen nicht. Die größte Gefahr im ersten Teil des Lebens, wenn noch wenig Erfahrung vorhanden ist, ist daher die, dass man die Menschen zu wichtig nimmt, im zweiten, dass sie einem zu gleichgültig werden.

Es gibt allerdings noch eine ganz andere Quelle der Menschenkenntnis, die aber niemandem zu wünschen ist, der sie nicht kennt: nämlich die in nervösen Zuständen vorhandene. Da spürt man körperlich ganz deutlich die Art von Geist, die in einem anderen Menschen ist, von denen der eine auf den kranken Menschen beruhigend und erfrischend wie klares Wasser, der andere aber aufregend und beängstigend wirkt. Das ist die Menschenkenntnis, welche die Heilige Schrift "Besessenen" zuschreibt (Mk 3 11, Mk 5 7, Apg 16 16-18). Das sind aber krankhafte Zustände, die nicht bestehen sollen und mit denen man sich auch nicht ohne Not einlassen soll.

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Einige Erfahrungssätze der Menschenkenntnis sind folgende:

Wie die Höflichkeit, so zeigt sich auch die wirkliche Ehrlichkeit der Menschen bei ihrem Verhalten in kleinen Dingen (Lk 16 10). Dieses stammt aus einer moralischen Grundlage, während Ehrlichkeit im größeren Stil oft bloße Gewohnheit oder Klugheit ist und noch nicht über den Charakter eines Menschen Aufschluss gibt.

Eitelkeit und Ehrgeiz sind immer ein schlimmes Anzeichen, denn beide beruhen im Grunde auf einer Selbstverurteilung und wollen die mangelnde innere Befriedigung durch den äußeren Schein oder das günstige Urteil anderer ersetzen. Gründliche Pessimisten sind stets eitel. Sie geben durch ihren Pessimismus mehr oder weniger deutlich zu verstehen, dass sie selbst eigentlich eine Ausnahme von diesem schlechten Menschenpack wären, wenn sie auf Verständnis ihrer Art rechnen könnten.

Dem überbescheidenen Wesen und besonders der Selbstironie ist nie zu trauen. Meistens steckt eine starke Dosis von Eitelkeit und Ehrgeiz dahinter. Wahrhaft bescheidene Menschen sprechen überhaupt nicht von sich, weder Gutes noch Böses, und verlangen gar nicht, dass man sich mit ihrer Person beschäftige. Eitle versuchen dagegen oft, auf dem scheinbar bescheidenen Weg einer Selbstverurteilung die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken oder gar Komplimente zu erhaschen.

Gutmütige Hilfsbereitschaft ist ein sicheres Zeichen eines guten, Grausamkeit gegen Tiere und Spottsucht ein sicheres Zeichen eines schlechten Charakters.

Einer der besten Prüfsteine für das Vorhandensein von wirklichem Edelmut ist das Verhalten der Menschen gegenüber lange andauerndem oder ganz hoffnungslosem Unglück. Diejenigen, die wenig Edelmut besitzen, ermüden und überlassen den Unglücklichen bald seinem Schicksal, etwa noch gar mit der schönen Redensart, man müsse ihn mit seinem Gott allein lassen. Die anderen, die mit ihrer wahren Teilnahme dennoch aushalten, bestehen die höchste Probe der uneigensüchtigen Menschenliebe. Gewöhnlich sind dies einfache, arme Leute, während die Gebildeten und die Reichen sich ihr weit seltener gewachsen zeigen. Überhaupt wohnt natürlicher Edelmut, die schätzbarste aller natürlichen Eigenschaften der Menschen, weit mehr in den unteren Klassen, und die "Edelsten der Nationen" sind anderswo zu suchen, als da, wo man sie nach gewöhnlicher Sprechweise anzunehmen pflegt.

Die schlechteste Charaktereigenschaft eines Menschen ist natürliche Untreue. Daneben helfen alle sonstigen sogenannten guten Eigenschaften nichts, sie machen den Menschen nur gefährlicher – während die Treue auch mit den allerschlimmsten aussöhnt. Sie ist die großartigste Eigenschaft der deutschen Stammesgenossenschaft und macht selbst den wilden Hagen des Nibelungenliedes noch erträglich. Und sie ist auch das sicherste Zeichen geistiger Gesundheit: Wer nicht treu sein kann, der befindet sich in geistigem Verfall.

Ein deutliches Kennzeichen eines im Grunde unedlen Menschen ist ferner Undankbarkeit. Sie stellt ihn unter die edleren Tiere, die alle dankbar sind. Eine besonders hässliche Form dieser Eigenschaft ist jene, die dem Dank von vornherein auszuweichen versucht, indem sie den Anschein erweckt, als sei die Annahme von Wohltaten eine Überwindung für den Empfänger und daher eine Ehre für den Geber, für die er noch verbunden sein müsse. Empfangene Wohltaten machen überhaupt nur edelgesinnte Leute dankbar; die anderen suchen baldmöglichst einen Vorwand, um sich diesem Gefühl, das sie als drückend empfinden, zu entziehen. Besonders die Rückgabe geliehenen Geldes wird von unedlen Menschen als ein Verdienst ihrerseits betrachtet, für das ihnen der Gläubiger zeitlebens Dank schulde.

Am meisten kommt es bei der richtigen Einschätzung der Menschen auf das Kaliber an, das sie besitzen. Das kann man jedoch den Menschen auch durch die beste Erziehung und die höchste Bildung nicht geben, sondern es ist Naturanlage. Aus einer jungen Katze wird nie ein Löwe, so ähnlich sie sich anfangs auch sehen. Nur erhöhen lässt sich das vorhandene Kaliber durch große Lebensschicksale, schwere Leiden und sehr guten Umgang, besonders durch treue und sehr gut veranlagte Freunde und durch richtige Ehen. Man muss sich daher hüten, manchen Menschen dadurch unrecht zu tun, dass man sie willkürlich zu hoch taxiert und zu viel von ihnen verlangt. Sie können es nicht leisten, sind aber in ihrer Art vielleicht doch gute, treue Menschen, an denen man etwas hat und die oft mehr ausrichten, als wenn sie sich bedeutender machen wollten, als sie sind.

Man soll niemals Menschen persönlich kennenzulernen versuchen, denen man unbedingt ergeben oder unbedingt gegensätzlich bleiben will. Man wird in beiden Fällen leicht abgelenkt durch Eigenschaften, die der vorgefassten Meinung widersprechen. Aus dem gleichen Grund soll man seine Feinde persönlich kennenlernen und seine Freunde nicht zu häufig sehen.

Der Ruf eines Menschen ist für seine Beurteilung nicht unbedingt maßgebend. Besonders berühmte Leute sind oft anders, als man sie sich danach vorstellt. Im Ganzen genommen aber enthält das öffentliche Urteil über einen Menschen oft viel Wahrheit und ist ein sehr wichtiger Faktor für seine Kenntnis. Dass ein guter Mensch bis an sein Lebensende verkannt wird, kommt nicht vor. Die öffentliche Meinung über Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, ist überhaupt wohl steten Schwankungen ausgesetzt ähnlich einer Wasserfläche, aber sie hat doch das Bestreben, das nicht beseitigt werden kann, immer wieder in die richtige Lage zurückzukehren.

Bei allen guten Menschen kann man darauf rechnen, dass sie eine aristokratische Natur haben. Die Demokratie ist eine richtige politische Überzeugung, wenn sie aber Naturanlage ist, nicht vorteilhaft.

Von der Charakteranlage her gute Menschen lernt man am besten in den Zeiten ihres Leidens kennen, denn dann treten die Möglichkeiten ihres Wesens offener zu Tage. Geringwertige lernt man am besten in den Zeiten des Glücks und durch die Art ihrer Vergnügungen kennen.

Alle grundsätzlichen Menschenhasser sind selbst Egoisten. Allerdings entspricht es der Erfahrung, dass man an allen, auch an den besten Menschen, Enttäuschungen erleben kann, an den Gebildeten noch mehr als an den Einfachen. Verlassen soll man sich überhaupt nicht unbedingt auf Menschen, und die allerbesten und zuverlässigsten Freundschaften sind jene, die entweder aus Feindschaft hervorgegangen sind oder die einmal (aber nicht zweimal) zerbrochen waren. Denn dann allein sieht man auch die Schattenseite des Freundes und kann sie fortan ertragen. Dagegen gehört ein öfterer Wechsel von Freundschaft und Gegnerschaft zu den Anzeichen eines geringen Charakters ("Pack schlägt sich, Pack verträgt sich").

Dass man Freunde nur in der Not kennenlernt und dass man solche, die sich dann nicht bewähren, stillschweigend und sanft entlassen muss, das ist eine Wahrheit, die fast zu trivial ist, um noch einmal ausgesprochen zu werden.

Weshalb man im Unglück plötzlich so erschreckend wenig Freunde besitzt, ist psychologisch dadurch zu erklären, dass die unedleren fürchten, tatsächlich helfen zu müssen, die edleren aber oft die Unmöglichkeit einer jeden Hilfe zu sehen glauben und sich der bloßen Anteilnahme – mit Unrecht – schämen. Häufig verfallen auch selbst sehr wohlwollende Menschen in den Fehler der Freunde Hiobs, unwillkürlich anzunehmen, jedes Unglück sei mehr oder weniger selbstverschuldet, so dass Erbarmen ohne Tadel und Ermahnungen nicht am Platze wäre. Die rücksichtsloseren sprechen dann wohl ihr Urteil aus, die feiner gearteten aber ziehen sich lieber zurück, um das nicht tun zu müssen. (Noch häufiger ist dies alles bei Verwandten der Fall.)

Es gibt überhaupt zwei Arten von Freunden: die einen, die uns so weit begleiten, wie der Weg für sie angenehm oder wenigstens gut gangbar ist; die anderen, die unter allen Umständen und ohne alle Frage stets an unserer Seite stehen. Manche Menschen haben nämlich die sonderbare Gewohnheit, auch ihren längst erprobten Freunden gegenüber immer die Unparteiischen und Gerechten spielen zu wollen, sogar gegen deren Feinde. Gewöhnlich ist damit Herzenskälte oder Eitelkeit verbunden, manchmal auch geheime Eifersucht. Wen du daher einmal auf diesem Pfad getroffen hast, den lass innerlich fahren, aber ohne Groll, denn er macht es vermutlich sogar seinem Gott nicht besser. Aber nimm dir bei jeder solchen Erfahrung neuerlich vor, stets unbedingt zu deinen Freunden zu stehen. Zuverlässigkeit ist Dritten gegenüber die wertvollste aller menschlichen Eigenschaften. Wo sie fehlt, helfen alle anderen nichts, wo sie vorhanden ist, ersetzt sie viele sonst fehlenden.

Der Neid ist ein sehr widerwärtiger Begleiter durch das Leben und hört gewöhnlich erst zu dessen Ende hin auf. Er ist aber auch für alle wirklich bedeutenden Leute eine notwendige Schutzwehr gegen die zu große Verehrung, die ihnen noch mehr schaden würde, wenn sie allein stünde, und die überhaupt von geringem Wert ist. Ein Quentchen wirkliche Freundschaft ist viel mehr, als eine ganze Wagenladung Verehrung.

Eine wichtige Regel für die Menschenkenntnis ist auch die: Gib dich selbst offen, wie du bist, vor allem hasse das prinzipiell Böse offen und lass keine Gelegenheit vorübergehen, ohne es zu zeigen. Dann decken die Menschen auch ihre Karten offener gegen dich auf. Besonders öffentliche Personen müssen in ihrem ganzen Leben rein und ungetrübt "wie durchsichtiger Kristall" sein, so dass man alles sehen kann.

Die Menschen reden im allgemeinen am liebsten von den guten Eigenschaften, die sie nicht besitzen. Im Hinblick auf die bösen dagegen gilt das Sprichwort: "Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über" (Mat 12 34). Leute, die oft und gern von unsauberen Gegenständen und den Gefahren der Welt in dieser Richtung sprechen, wenn auch mit der ernstesten Miene der Missbilligung, empfinden immer eine starke geheime Neigung dazu. Andere, denen stets Wohltätigkeit und gute Werke auf der Zunge liegen, haben mit einer Anlage zum Geiz oder zur Habsucht zu kämpfen. Die Schlimmsten sind jene, die immer von Aufrichtigkeit und Loyalität reden.

Die meisten Fanatiker für ein Spezialgebiet sind es bloß dadurch geworden, dass sie anfänglich sehr wohl wussten, sie würden es ohne eine derartige Steigerung ihrer Empfindung nicht bei der Sache aushalten. Sie sind daher meistens nicht ganz ehrlich.

Es ist eines der besten Zeichen für einen Menschen, wenn kleine Leute, vor allen Dingen kleine Kinder, aber auch einfache, arme Leute, ja selbst Tiere, Vertrauen und Zuneigung zu ihm haben. Einem Menschen, den Kinder und Tiere nicht leiden können, ist nicht zu trauen. Auch Frauen sind ein guter Wertmesser – vorausgesetzt, dass sie selbst von guter Art sind, sonst im umgekehrten Sinn. Der häufige Umgang mit kleinen Leuten trägt auch sehr zur Zufriedenheit mit dem Leben bei. Alle großen Pessimisten haben sie verachtet und an den bedeutenderen Leuten, deren Verkehr sie suchten, keine Befriedigung gefunden.

Pessimismus und Menschenhass bei jungen Leuten, wenn es nicht bloß Redensart ist, deutet auf einen unregelmäßigen Lebenswandel hin, während eine rein erhaltene Jugend eine Quelle unverwüstlicher Lebensfreudigkeit ist.

Darum sind wir nicht gerecht, dass uns die Menschen loben, sondern darum "dass uns der Herr lobet." Wer das jemals erfahren hat, der wird auch wissen, dass Menschenlob, so unzuverlässig und billig es ist, immer ein wenig stolz macht und von der Wahrheit abführt (Joh 5 44), während das Lob des Herrn keineswegs eine solche Wirkung besitzt. Den frommen Leuten, die hochmütig sind, kann man auf den Kopf zu sagen, dass der Herr sie niemals gelobt hat, sondern dass sie sich selbst loben und durch andere loben lassen.

Stolz ist stets mit einer Portion Dummheit verbunden. Während Eitelkeit lächerlich macht, aber nicht verhasst, ruft Hochmut das Gefühl von Trotz und Verachtung hervor. Hochmut kommt, wie ein richtiges Sprichwort sagt, stets unmittelbar vor dem Fall. Wer hochmütig wird, hat sein Spiel schon verloren, und man kann mit Sicherheit darauf rechnen, dass er dem Verderben entgegengeht. Sobald uns Gott verlässt, erhebt sich unser Herz (2 Chr 32 25, 2 Chr 32 31). Jeder Hochmut hat auch eine stark sinnliche Grundlage. Alles rein Geistige ist bescheiden, weil zu sehr von der Größe seiner Aufgabe durchdrungen.

Dagegen sind unsere Fehler, die uns selbst klargeworden und worüber wir in uns demütig geworden sind, anderen oft gar nicht so sehr bemerkbar. Sie treten nach außen schon nicht mehr so stark hervor wie diejenigen, die wir noch nicht einsehen wollen und können. Das ist der erste auffallende Lohn eines solchen Kampfes gegen sich selbst.

Eine richtige, aber in der Gesinnung wohlwollende Kritik wäre jedem Menschen ein Bedürfnis. Daher kommen die einfachen Leute weiter, die von aller Welt ohne Umschweife getadelt und zurechtgewiesen werden, wenn sie Fehler machen, während höherstehende nach vollendeten Schuljahren selten mehr einen vernünftigen Tadel erhalten. Selbst die Kritiker wollen sich ihnen gegenüber oft nur wichtig und unentbehrlich machen und greifen irgendeinen beliebigen Punkt an, an dem ihnen eigentlich gar nichts liegt.

Es ist eine bedeutende Kunst, von seinen eigenen Leistungen – wenn überhaupt davon gesprochen werden muss – ruhig und ganz sachgemäß zu reden. Das Gewöhnliche ist, dass die einen sich zu viel darauf zugutehalten und damit (laute oder stille) Ablehnung hervorrufen, während die anderen mit einer gewissen nachlässigen Verachtung davon sprechen, die andeuten soll, dass sie dergleichen ja noch viel im Vorrat hätten. Das Beste ist, davon überhaupt so wenig wie möglich zu sprechen und jedenfalls niemals selbst das Gespräch darauf zu lenken. Denn Eitelkeit wird immer bemerkt, selbst von den Einfältigsten. Es gibt kein anderes sicheres Mittel, nicht für eitel und ehrsüchtig gehalten zu werden, als es absolut nicht zu sein. Daher sind auch Selbstbiographien gewöhnlich dem Andenken der Geschilderten nicht vorteilhaft: Sie müssen das Beste auslassen oder den Verdacht der Eitelkeit auf sich nehmen.

Wenn ein junger Mensch unbescheiden oder auch nur sehr sicher und nicht ein wenig schüchtern ist, dann hat er einen mangelhaften Charakter und wenig wirkliches Verdienst, oder er ist wenigstens sehr früh fertig geworden und entwickelt sich nicht mehr weiter. Das weitverbreitete Vorurteil, dass man mit Bescheidenheit nicht durch die Welt komme, ist unrichtig, wenn man nicht auf den augenblicklichen Erfolg sieht.

Eine verdächtige, jedenfalls unkluge Neigung ist es, Überbringer schlechter Nachrichten zu sein. Die Beweggründe dazu können zwar sehr verschieden sein, meist ist damit jedoch eine gewisse Selbstüberhebung verbunden, die den anderen gern in einem erschütterten und gedemütigten Zustand sieht. Dies ist ein unedles Gefühl, das der Schadenfreude oft sehr nahe kommt, und das wird auf der anderen Seite auch instinktiv empfunden. Etwas von der bösen Erinnerung bleibt stets an ihrem Urheber haften.

Ungebrochene Menschen, die nie einen großen Schmerz oder eine große Niederlage ihres Ichs erlebt haben, taugen nichts. Sie behalten etwas Kleinliches oder Hochmütig-Selbstgerechtes, Ungütiges in ihrem Wesen. Und das macht sie Gott und Menschen verhasst, trotz ihrer Rechtschaffenheit, auf die sie sich gewöhnlich viel zugutehalten.

Vor Leuten, die keine gutmütige Natur haben, muss man sich stets in acht nehmen. Ein bösartiges Naturell ist sehr schwer zu überwinden. Es zeigt sich am leichtesten durch die vorhandene Neigung zum Spott.

Angenehm sind dagegen die Leute, die für ihre Nebenmenschen bequem sind: stets gleichmäßig in der Stimmung, immer freundlich und hilfsbereit, nie nervös-unruhig oder aufdringlich, am Wohlergehen anderer sich freuend, im Unglück teilnehmend und trostreich. Dazu braucht es gar nicht einmal viel Geist; im Gegenteil, die geistreichen Menschen haben oft gerade diese Eigenschaft nicht, die alle anderen ihrer Eigenschaften erst recht nützlich und wertvoll machen würde.

Sehr schwer ist es in gewöhnlichen Zeiten, wirkliche Tapferkeit zu erkennen. Doch gibt es ein unfehlbares Zeichen: Tapfere Leute gehen nie mit Übermut in einen Kampf und fürchten sich weniger nach einer Niederlage als nach einem Sieg, denn jeder Sieg enthält auch ein wenig Unrecht gegenüber dem Gegner. Feiglinge werden dagegen nach jedem Sieg übermütig. Sich selbst lernt der Mensch in dieser Hinsicht durch seine Träume kennen. Da sieht er sich, wie er ist, ohne die Herrschaft eines besseren Willens, der nicht bloß auf sinnlichen und seelischen Affekten beruht.

Die Schlauheit eines Menschen setzt ihn stets in unserer Achtung herab. Wir denken an die Möglichkeit, dass sie auch gegen uns angewendet werden könnte. Daher kommen, wie das Sprichwort sagt, "zuletzt alle Füchse beim Kürschner zusammen." Niemand liebt sie, und sie verlieren ihr Spiel im Ganzen doch.

Ein jeder Mensch soll seinen Typus ausbilden. Wenn man gar nicht mehr weiß, welcher Nation er angehört, ist er eine unerfreuliche Erscheinung. Daher sind Grenzbewohner oft von zweifelhaftem Wesen, und Vielsprachigkeit ist in der Regel weder ein Anzeichen von Genie noch von Charakter. Die zweifelhaftesten sind jene Leute, die verschiedene Sprachen in einem Satz durcheinander mengen; denen fehlt auch noch die Bildung.

Auf das Äußere eines Menschen ist im Ganzen nicht viel zu geben. Die Physiognomik1 ist eine trügerische Wissenschaft. Doch sind eine starke Entwicklung des unteren Gesichtsteils gegenüber dem oberen, ein unbedeutendes Kinn, Augen ohne Ausdruck, ein stets unruhiger, suchender Blick und eine sehr laute Sprechweise bei Frauen nicht von günstiger Vorbedeutung. Zum Glück lässt sich auch der Ausdruck der Unschuld von ihnen niemals nachahmen. Bei koketten Frauen und Ehrgeizigen ist der Raubtierblick, den sie nicht ganz beherrschen können, oft sehr charakteristisch für das, was in ihnen vorgeht. Ein "stechender" Blick verrät bei Männern Unsolidität der Lebensweise, wulstige Lippen verraten Genusssucht, herabgezogene Mundwinkel Neid oder grämliches Temperament. Gesichtszüge lassen sich übrigens auch durch den Charakter zum Guten oder Bösen ausbilden, daher das Sprichwort: "Eine Gerechtigkeit gibt es auf Erden, dass aus Geistern Gesichter werden.""

Die starke Verbreitung der Fotografie ist für die Menschenkenntnis sehr schädlich gewesen, da man sich aus Fotografien gewöhnlich ein falsches Bild von den Menschen macht und daher voreingenommen ist.

Bei der menschlichen Wirksamkeit hängt das weitaus meiste von einer gewissen Beglaubigung eines Menschen bei den Mitlebenden ab. Diese Beglaubigung kann nur Gott geben, und sie tritt in der Regel, wenn es um bedeutende Menschen geht, spät ein. Alle "Bausteine" müssen zuerst verworfen werden (Ps 118 22). Diese allein richtige Laufbahn ist durch keine Art von Streberei zu ersetzen.

Mit besonderen Menschen durchläuft man gewöhnlich drei Stadien der Bekanntschaft: Im ersten Stadium gefallen sie einem unwillkürlich, im zweiten stoßen sie durch allerlei Ecken und Auffälligkeiten ihres Wesens eher ab, im dritten aber erscheint wieder das Gefallen am ganzen Menschen. Bei gewöhnlicheren Menschen ist der erste Eindruck gering, der zweite oft um allerlei einzelner guter Eigenschaften willen besser, der Schluss aber unbefriedigend. Im Großen und Ganzen ist der erste Eindruck, den man von einem Menschen empfängt, der richtige, sofern man selbst dabei ganz unbefangen ist.

Am schwierigsten ist die religiöse Menschenkenntnis. Sie hält sich am besten an 1 Joh 4 1-6 und 1 Joh 5 1-5. Damit ist aber eine gewisse menschliche Vorzüglichkeit nicht ausgeschlossen, die auf philosophischer Bildung oder großer Klugheit und Lebenserfahrung beruht. Alle Frömmigkeit muss freundlicher machen, sonst ist sie nicht echt.

Was ist überhaupt vorzuziehen: die braven Leute, die nicht fromm, oder die frommen Leute (die wirklich frommen, es gibt auch solche), die nicht, jedenfalls nicht immer brav sind? Ich fürchte, dies ist der Punkt, wo meine Ansicht mit derjenigen Gottes nicht immer übereinstimmt (Lk 5 32).

Das Edel-Handeln scheint, besonders dem jugendlichen Menschen, oft leichter als das Pflichtgetreu-Handeln. Gut denn, so halte dich einstweilen daran. Aber wenn du das eine einmal kannst, dann musst du das andere auch noch lernen, sonst bleibt dein Leben doch nur eine schöne – Halbheit.

Die Heimsuchung der Sünden bis ins dritte und vierte Glied (2 Mos 20 5) hat auch den Sinn, dass Gott so lange noch an diesen Generationen arbeitet. Das Schlimmste, was den Menschen begegnen kann, ist nicht diese Heimsuchung, sondern dass Gott sie fortan ganz ihrem eigenen Wesen und Willen überlässt. Heimsuchung ist daher für die Bösen stets ein Amnestieangebot, dauerndes Glück eine Verwerfung.

Eine ganz gleichmäßige, etwas kühle, aber nicht egoistische, gegenüber jedermann freundlich teilnehmende Gemütsart ist vielleicht die glücklichste Naturanlage, um allgemein beliebt zu werden. Diese Menschen gelten vorzugsweise als "liebenswürdig" und sind allgemein geschätzt, ohne dass sie oft irgendetwas Erhebliches und Reelles zum Fortschritt der Welt beitragen. Es gibt daher sogar Leute, die sich diese Art aus Klugheit künstlich aneignen. Ob alle diese liebenswürdigen Leute aber nicht doch zuletzt "ihr Pfund vergraben"2 haben, das ist eine andere Frage.

Den zweiten Teil dieses Aufsatzes finden Sie hier.


  1. Als Physiognomik bezeichnet man die Lehre von den Zusammenhängen zwischen den äußerlichen Merkmalen eines Menschen und dessen seelischen Eigenschaften. Vgl. Wikipedia-Artikel

  2. Redewendung im Sinne von: seine Fähigkeiten nicht nutzen, nach Mt 25 18