Schuld und Sorge (1. Teil)

(aus Carl Hilty: »Glück«, Teil 2, Leipzig/Frauenfeld 1907)

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zusammen mit anderen Aufsätzen in Carl Hilty: Lebenkunst und Lebensglück.

Obwohl der Weg zum Glück klar und stets für jedermann offen ist, gelangen selbst nicht alle, die ihn gesehen haben, dazu, ihn wirklich zu beschreiten. Viele kehren wieder um, sobald sie einmal, wie der arme "Gefügig" in Bunyans berühmter Pilgerreise1, in den "Sumpf der Verzagtheit" geraten. Und diese Umkehrer sind es – nicht diejenigen, die ihn nie beschritten haben –, die dem schmalen Pfad zum wirklichen Lebensglück den schlechten Ruf verschaffen, in dem er bei den sogenannten Realisten steht.

Dabei fehlt es diesen oft hochbegabten und anfänglich ernstgesinnten Flüchtlingen gar nicht immer an dem Mut, der nötig ist, um die Wahrheit zu ergreifen und den reizenden Täuschungen des Lebens zu entsagen. Aber am Eingangstor zu dem besseren und allein selig machenden Dasein stehen zwei Nachtgestalten, vor denen auch das stärkste Menschenherz erzittert und die keinen vorbeilassen, der sich nicht zuerst mit ihnen auseinandergesetzt hat.

Was sich unserem Glück entgegenstellt und dessen große, stets gegenwärtige Schranke bildet, das sind zwei furchtbare Realitäten, die jeder kennt, der das erste halbunbewusste Kindesalter hinter sich gelassen hat: die Schuld und die Sorge. Sie zu beseitigen, darum geht es letztlich bei allen menschlichen Glücksbestrebungen; es gibt keine Philosophie, Religion, Erfolgslehre oder Politik, die nicht wesentlich darauf gerichtet ist.

Der erste dieser beiden großen Widersacher, mit denen jeder Mensch einen schweren Kampf bekommt, ist die Schuld. Sie fängt schon früh im Leben an, meistens früher als die Sorge und auch früher, als es die gewöhnliche Redensart von der Unschuld des kindlichen Alters glaubt (oder gelten lassen will, um noch etwas von dem "Paradies der Kindheit" für die Zeit des späteren heißen Lebensweges zu retten). "Ihr führt ins Leben uns hinein, ihr lasst den Armen schuldig werden, dann überlasst ihr ihn der Pein", so redet Goethe die "himmlischen Mächte", eigentlich aber ein unerbittliches Schicksal an, das nach seiner Lebensauffassung das menschliche Dasein beherrscht und gegen das weder titanenhafte Empörung hilft noch der seither in den breiteren Massen unserer Völker noch gebräuchlicher gewordene Versuch, die Schuld überhaupt zu leugnen. In jedem Menschen lebt mit unerbittlicher Realität ein Gefühl, dass es Pflicht und Schuld gibt und dass die Schuld der Pflichtvergessenheit nicht bloß folgt, sondern ihr innewohnt, und dass sie sich in ihren Wirkungen mit mathematischer Sicherheit über das Haupt des Schuldigen ergießen muss, wenn sie nicht durch irgendein Mittel, das nicht bloß eine philosophische Betrachtung sein kann, abgewendet wird.

Versuche es, wenn du es wagst, dich durch bloße Verneinung von diesen eisernen Grundfesten aller menschlichen Existenz loszusagen. Es gibt deiner Entschließung zum Trotz dennoch eine Pflicht, einen rechten Weg in jeder Handlung, ja in jedem Gedanken deines Lebens, und wenn du ihn nicht gehst, dann ist es eine Schuld. Oder besser: Versuche lieber nicht, woran Millionen mit ihrem Denken und Handeln schon scheiterten und woran auch du scheitern wirst. "Jenseits von Gut und Böse"2 ist kein Ort auf Erden, außer dem Irrenhaus, dem heute viele, oft reichbegabte Menschen – und nicht bloß zufällig – entgegengehen. Der menschliche Geist verfällt dem Irrsinn, wenn er es im Ernst unternimmt, die Anerkennung dieser Wahrheiten in sich zu beseitigen.

Ich weiß wohl, dass Pflicht und Schuld damit nicht "erklärt" sind, und nach meiner Ansicht ist es für das menschliche Wohlbefinden sogar gleichgültig, wie man dieses Gefühl erklärt: ob man es als einen durch Generationen hindurch vererbten Aberglauben ansieht oder als einen Glauben, der auch verstandesmäßiger Auffassung zugänglich ist. Selbst im ersteren Fall ist der Held noch nicht gefunden, der die Menschheit von dieser Bedrückung befreien könnte, die seit dem Beginn ihrer Geschichte auf ihr lastet. Die einzelnen schwachen Versuche hierzu sind für ihre Urheber meistens sehr unglücklich ausgefallen. Ich glaube jedenfalls nicht, dass es einen Menschen geben kann, der mit freier, wolkenloser Stirn kühn jede Pflicht und jede Schuld leugnet und mit dem kecken Glauben, alles tun zu dürfen, was ihm beliebt, herzensfröhlich und in ungetrübter Sicherheit dieses inneren Bewusstseins durch das ganze Leben wandelt. Und wenn es ihn gäbe, dann würde er einzeln dastehen und für alle anderen, Andersbegabten, unerträglich sein.

Ganz begreiflich machen lassen sich Pflicht und Schuld nur, wenn man einen persönlichen und außerhalb dieser Welt stehenden Gott anerkennt, aus dessen Willen dieses innere Gesetz alles bewusst Lebenden entspringt. Vergeblich wäre es freilich auch, einen solchen übernatürlichen Gott verstandesmäßig erklären zu wollen. Eben weil er übernatürlich ist, entzieht er sich unserem Begreifen, und die sogenannten "Beweise Gottes" haben nichts, was den menschlichen Verstand zufriedenstellt. Insofern hat der Atheismus ein gewisses Recht, sich für nicht überzeugt zu erklären. Nur ist er selber ebensowenig imstande, sein "System" vernunftgemäß zu beweisen und alle daraus hervorgehenden Zweifel zu lösen.

Daher wird es wohl, solange eine Menschheit existiert, dabei bleiben, dass man Gott nicht beweisen kann, er sich aber ebensowenig, wenn er existiert, durch bloße Verleugnung für sein eigenes Leben beseitigen lässt. Die entscheidende Frage im Leben jedes Menschen, immerhin aber eine Frage, wird es bleiben, ob er versuchen will, Gott zu leugnen, und ob er damit die innere Befriedigung erreichen kann, die er davon erwartet – oder ob er die deutliche Forderung der ältesten Gottesoffenbarung für sich anerkennt: "Ich bin der Herr, dein Gott, und du sollst keine anderen Götter haben neben mir." Denn, wie ein israelitischer Kommentator wohl mit Recht sagt, heißt es an dieser Stelle eigentlich nicht "ich bin", womit bloß eine Tatsache bezeugt wäre, sondern "ich sei". Damit erst wird diese Aussage zu einer Forderung, und gerade weil sie einen Entschluss verlangt, kann sie demjenigen, der sie erfüllt, auch "zur Gerechtigkeit angerechnet" werden, wie es in 1 Mos 15 6 heißt. Sonst hätte das keinen Sinn.

Sich gegen eine Gottesordnung aufzulehnen, die man mit seinen Gedanken allein nicht ändern kann, ist ein fruchtloses Unterfangen. Wenn daher ein Mensch, der zur vollen Besinnung über sich selbst und seinen Lebenszweck gekommen ist, Gott vollkommen frei und freiwillig als Herrn anerkennt, versetzt ihn das in Harmonie mit sich selbst und der ihn umgebenden Welt. Und die ganze Geschichte der Menschheit ist auch nichts anderes als die allmähliche Ausbildung eines solchen freien Willens der Völker für den Willen Gottes. Wer Gott nicht nur in Worten, sondern tatsächlich leugnet, der handelt gegen seine eigene Bestimmung und sein Wohlergehen, ebenso wie gegen das Wohl der Menschheit. Dieser Kriegszustand gegen Gott, die Menschen und das eigene Leben ist es vermutlich, was das Gefühl der Schuld hervorruft. Eine andere und bessere Erklärung gibt es dafür meines Erachtens nicht.

Was "das Böse" eigentlich ist und was speziell Christus darunter verstand mit seiner Bitte, uns davon zu erlösen, das wird uns, solange wir auf Erden wandeln, ebenso unklar bleiben wie die Frage, was Gott ist. Wir wissen bloß – und das wiederum nur aus Erfahrung –, dass wir uns in die Macht des Bösen begeben können und dass es keine andere Macht über uns besitzt, als die, die wir ihm selbst einräumen. Dies geschieht besonders durch jede Unwahrheit und durch das Überwiegen des sinnlichen, tierischen Lebens über das geistige. Jeder feiner organisierte Mensch spürt dies sofort durch ein Unbehagen, das nach und nach sogar körperlich wird und von dem nichts anderes befreit als die Umkehr. Und ebenso empfindet man den Geist der Wahrheit in einem anderen Menschen, einem Buch oder in einem ganzen Haus oder Volk als wohltuend, den Geist der Lüge dagegen als etwas Ungesundes und Vergiftendes, wie schlechte Luft in einem Zimmer (an die man sich freilich auch gewöhnen kann). Alles das kann ein Mensch in seinen Gedanken wohl loszulassen versuchen, er hat die völlige Freiheit dieses Wollens. Aber ob es ihn loslässt und freigibt, ist eine ganz andere und die viel wesentlichere Frage, die durch keine Theologie bisher einleuchtend gelöst ist.

Einen recht glücklichen Ausdruck für diese Anschauung enthält ein Gedichtfragment aus dem Nachlass des Naturforschers Carl Ernst von Baer:

Und der Herr wird sprechen:
Steige auf ins Reich der Klarheit,
Nähre dich mit ew’ger Wahrheit!
Lob das ew’ge Maß der Zeiten
Und durchschau des Raumes Weiten,
Dass die dunkle Erdenbinde
Von des Geistes Augen schwinde.
Ahnung hatt’st du schon auf Erden,
Dass der Grund von allem Werden
Ist des Stoffs geregelt Müssen
("Kräfte" heißt’s in eurem Wissen).
Lerne jetzt, dass "Muss" und "Sollen"
Ausdruck ist von meinem Wollen.
"Müssen" ward dem Stoff gegeben,
"Sollen" nur dem freien Leben.
"Müssen" ist der Knechtschaft Kette,
Die dem Stoffe ist gegeben;
"Sollen" ist der Ruf zur Stätte,
Der entsprossen ist das Leben.

Mit denjenigen, die behaupten, ein Gefühl der Schuld nie besessen zu haben, darüber kann und will ich nicht streiten; ich sehe auch nicht in ihre Seelen hinein. Ich antworte ihnen nur, dass sie sich dann in großer Minderzahl und eigentlich auf der Lebensstufe der Tiere befinden würden, bei denen auch kein Gefühl einer sittlichen Verpflichtung und daher keine Schuld besteht, sondern alles erlaubt ist, was der Naturtrieb fordert. Wenn sie hingegen das Gefühl der Schuld auch nur zeitweise besitzen, dann sage ich: Es ist auch für sie nicht anders erklärlich als aus einer sittlichen Weltordnung, die wir nicht ändern können und gegen die man nicht handeln, ja nicht einmal denken darf. Übrigens gibt es nach meiner eigenen kriminalistischen Erfahrung keine Menschen, denen das Schuldgefühl ganz fehlt, sofern sie nicht irrsinnig sind; allerdings manche, in denen es durch Erziehung, Lebensart und durch die ganze sittliche Atmosphäre, in der sie leben, abgestumpft erscheint.

Ich wende mich zu denen, die eine sittliche Weltordnung anerkennen. Für sie handelt es sich darum, sich von einer Last zu befreien, die von allen Erdenlasten die unerträglichste ist.

Ihnen sage ich zuerst: Lass die Schuld nicht in deinem Leben entstehen, du musst nicht, du kannst anders. Denn zuerst ist das, was nachher eine schwerwiegende Tatsache wird, meist ein flüchtiger Gedanke, ein Pfeil, der von irgendwoher in die unbeschäftigte Seele abgeschossen wurde. Verweilt die Seele dabei, ohne sofort Widerstand zu leisten (was in diesem ersten Augenblick noch leicht ist), dann entsteht rasch eine Neigung, der dann meistens die Trübung des sittlichen Bewusstseins und zuletzt die Tat folgt – und nach der Tat oft genug die Verzweiflung, die an keine Rettung mehr glauben kann oder das Geschehene nun erst mit materialistischer Philosophie vor sich selbst entschuldigt. In beiden Fällen ist dies der Tod des wahren geistigen Lebens (Jak 1 13–15). Daher ist wirklich der "Müßiggang aller Laster Anfang", und beständige, starke Arbeit bleibt das beste Verhütungsmittel, besonders für junge Leute. Deshalb war auch nach der geistvollen Erzählung der Heiligen Schrift Arbeit im Schweiße des Angesichts das einzige Mittel, um den durch den Genuss verdorbenen Menschen wieder auf den rechten Weg zu führen.

Wie aus einem Gedanken eine Neigung und schließlich eine Tat wird, zeigt die Geschichte vom Brudermord Kains an Abel (1 Mos 4 6–7). Eine ganz eigentümliche Auslegung dieser Stelle gibt ein israelitischer Kommentator mit folgenden Worten: "Die Sinnlichkeit [im weitesten Sinne gemeint] hat die Kraft, dich zu beherrschen, aber sie selbst bleibt ruhig vor deiner Türe. Sie kommt nicht von selbst zu dir herein. Wenn sie bei dir heimisch werden, ja zuletzt dein Hausherr werden soll, so musst du sie zu dir hereingeladen, ihr den Stuhl an deinen Tisch gestellt haben. Ihr ganzes Verlangen geht dahin, dass du sie beherrschst und leitest, nicht unterdrückst und tötest, sondern regierst, über sie waltest. Das ist ihr Ziel und ihre Bestimmung, und darum sehnt sie sich danach. Wenn sie kommt, dich zur Sünde zu reizen, so erfreue du sie mit Worten der Gerechtigkeit."

Aber leider ist der Rat, die Schuld gar nicht erst entstehen zu lassen, sehr theoretisch. Diejenigen, die keck glauben, dass sie dies stets aus eigener Kraft und aus freiem Willen zum Guten können, werden durch eigene Erfahrungen und durch die Beobachtung und Beurteilung anderer nach und nach die Forderungen stark herabsetzen müssen, die sie an den Menschen stellen. Das ist besonders der Fehler der edlen Kantischen Philosophie. Ein schwerer Durchgang durch ein "Tal der Demütigung" oder eine Abnahme der Sehschärfe in sittlichen Fragen bleibt keinem Menschen erspart, der glaubt, aufgerichteten Hauptes und ohne jede Hilfe von außen den "Pfad der Tugend" dauerhaft wandeln zu können.

Wichtiger für den Menschen, wie er in Wirklichkeit ist, ist daher der zweite Rat: Wenn du zum Glück gelangen willst, befreie dich um jeden Preis von jeder Schuld, die du trägst. Dies ist der unfehlbare Weg, und es gibt keine andere Möglichkeit, deine Seele wirklich zu befreien. Goethe hat im zweiten Teil seines "Faust" versucht, für die Schuld, die im ersten Teil mit ergreifender Wahrheit geschildert ist, eine Art von natürlicher Befreiung zu entdecken, und das sind auch in der Tat die Wege geblieben, die heute noch viele aufsuchen: großartiger Naturgenuss, der die anklagenden Stimmen im Inneren wenigstens zeitweise zum Schweigen bringen kann; Kunst und Schönheitszauber klassischer oder romantischer Art, worin manche zugleich die Vollendung und die Entsühnung des materiellen Menschen erblicken; oder endlich Aktion, Kulturtat, die das gepresste Herz erheben und wenigstens vorübergehend durch den Beifall der Menge über sich selber täuschen soll. Neben dem allem bleibt aber dennoch die Schuld als finstere Tatsache unerbittlich stehen, und auch der große Dichter hat sie auf keine irgendwie glaubwürdige Weise zu beseitigen vermocht. Eine solche göttliche Liebe, die auch den Nicht-Bereuenden, der bis zum letzten Augenblick in dem Trotz des Sich-ausleben-Wollens beharrt, in ihren Schoß aufnimmt, ist vielmehr ein bloßes Fantasiegebilde, eine willkürliche dichterische Erfindung, gegen die gerade eine starke Seele mit dem letzten Atemzug des Leibes noch um ihrer Ehre willen protestieren müsste.

Doch auch die Reue allein ist noch keine Befreiung von Schuld, wenn sich nicht gleichzeitig die Seele vertrauensvoll Gott zuwendet. Dessen mächtiger Gnadenarm fasst alles, was sich ihm zukehrt, auch wenn dies erst im letzten Augenblick des Lebens geschieht. Darin lässt er sich auch nicht durch den Machtspruch einer Kirche behindern.

Und dabei kommt es dann auf die Größe der Schuld nicht an, wie viele tröstliche Stellen der Heiligen Schrift zeigen. Was ist überhaupt eine Größe oder Kleinheit der menschlichen Schuld, wenn sie nicht nach menschlichen Begriffen und Strafgesetzbüchern, sondern nach dem Auge eines Richters beurteilt wird, der alles weiß und mit einer vollkommenen Gerechtigkeit misst?

Wer diesem Richter gegenüber den Mut findet, seine Gnade anzusprechen, der hat diese in ihren wesentlichen Bestandteilen sogar schon empfangen. Denn die Ungnade Gottes besteht gerade in der Verstockung, die den Menschen ungebrochen und trotzig bis an sein Ende bleiben lässt und ihn daran hindert, diese Gnade anzurufen.

Unsere Kirchen sind freilich zum Teil von diesem einfachen Bußweg im Laufe der Zeit weit abgekommen und behaupten mitunter eine sehr viel konkretere Art, sich von Schuld zu befreien, entweder durch äußere Handlungen oder durch bestimmte dogmatische Auffassungen von der Versöhnung mit Gott.

Ich halte alle äußeren Bußwerke, wie überhaupt alle sogenannten "guten Werke", für wertlos, wenn sie nicht spontan der inneren Wendung zu Gott entspringen. Und auch in diesem Fall sind sie noch immer nicht verdienstlich, sondern nur wohltätig und beruhigend. Das Wesentliche an der "Buße" – einer großen Sache, deren Sinn uns aber fast verlorenging – ist auch nicht die Traurigkeit der Reue (die im Gegenteil oft bloß "den Tod wirkt", 1 Kor 7 10), sondern einerseits der vollständige Wille einer Umkehr, der viel schwerer und seltener ist, andererseits die Überzeugung, dass es dazu einer anderen Kraft als der eigenen bedarf und dass der Wille allein oft nur ein "guter Vorsatz" bleibt. Schön drückt dies das Kirchenlied von Maria Magdalena Böhmer aus: "Herr, öffne mir die Tiefe meiner Sünden, doch zeig mir auch die Tiefe deiner Gnad." Eines ohne das andere führt entweder zur Verzweiflung oder zum Leichtsinn.

Für die christlichen Kirchen und ihre aufrichtigen Bekenner ist es daher selbstverständlich, die Hilfe Christi anzurufen (Apg 2 21, Apg 16 31). Christus ist der von Gott selbst in historisch sichtbarer Weise in die Welt gesandte Befreier und darf eben deshalb nicht umgangen werden. Eine weitläufige "Christologie" brauchst du deshalb jedoch nicht, gedrückte Seele; es gibt auch in Wirklichkeit keine zuverlässige, vielmehr kennt nur Gott allein die "Natur" dieses Erlösers und das Geheimnis der Erlösung durch ihn. Alles menschliche Reden darüber ist seit Jahrtausenden zur Unfruchtbarkeit verurteilt gewesen und hat in Wirklichkeit niemanden getröstet – wie umgekehrt aller menschliche, aber gutgläubige Irrtum in diesen Dingen allein wohl noch niemanden ewig verlorengehen ließ. Die eigenen Worte Christi, die uns stets unwiderlegbar darüber beruhigen werden, sind Mt 11 27, Mt 12 32, Mk 3 28 und Lk 12 20.

Du kannst also nur auf praktischem Weg, auf diesem aber sicher, erfahren, dass dir ein einfaches, aus tiefstem Herzen kommendes "Herr, hilf mir" einen Weg eröffnet, der sonst all deiner Philosophie wie all deiner Kirchlichkeit und deinen schwersten Bußwerken wie mit zehnfachen eisernen Türen verschlossen war. Diese Riegel tut dir das eine große, bedingungslose Wort des Evangeliums auf: "Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen." (Joh 6 37)

Ob du dann noch mit Menschen reden musst und was du an ihnen gutzumachen hast, das lass dir sagen, wenn du diese Rettung erfahren, die Hand ergriffen hast, die dich aus den Fluten der Ungewissheit und Angst auf den festen Grund eines Glaubens stellt. Vorher hat das gar keinen Zweck. Dies ist vielmehr der Punkt, der die meisten Menschen überhaupt von einer Buße abhält, weil sie befürchten, sie würden zeitlebens geistig abhängig bleiben von einem Dritten, dem sie ihre Schuld offenbahrt haben. Es ist aber gut möglich, dass du zu einem Menschen zum Bekenntnis geschickt wirst; denn das Christentum hat neben seiner wesentlichen, übersinnlichen Seite doch auch die Seite der menschlich-brüderlichen Gemeinschaft. Es ist nicht bloß ein allgemeiner Rahmen, in dem viele einzelne Seelen zwar in Verbindung mit Gott und Christus stehen, aber untereinander ohne inneres Band nebeneinander hergehen. Und wenn Stolz in deiner Seele ist, liegt vielleicht die psychologische Notwendigkeit einer Demütigung vor, die auch vor Menschen geschieht, nicht allein vor Gott. Die Vergebung, die ein von Gott dazu berufener Mensch ausspricht, enthält für viele außerdem eine Beruhigung, die sie in einem bloßen Gedankenvorgang, so real er auch ist, nicht finden können.

Kennst du solch einen Menschen? Empfindest du diese innere Aufforderung? Kannst du dich entschließen, ganz aufrichtig (wie vor Gott selbst) zu ihm zu sprechen? Und bist du willens, seine Anweisungen unbedingt anzunehmen? Dann geh nur ruhig dahin. Du wirst damit vielleicht einen größeren und schnelleren Fortschritt im inneren Leben erzielen als sonst; denn die Macht der Sünde besteht in der Heimlichkeit, und oft enthält erst das Bekenntnis die volle Lossagung von ihr. Fehlt aber nur eine dieser Voraussetzungen, dann nützt dir ein solches Bekenntnis nichts. Und solltest du gar ein Menschenwerk daraus machen – sei es der bestehenden kirchlichen Form zuliebe oder um einem anderen damit Ehre zu erweisen –, dann entehrst du das Heiligste und bringst dir selbst und dem Geehrten den größten Schaden. Der mitunter auffallende Niedergang von anfangs hochbegabten Geistlichen und religiösen Schriftstellern lässt sich oft auf solche nicht ganz aufrichtigen Seelenfreundschaften und Seelenführerschaften zurückführen.

Und nun entschließe dich, solange noch Zeit ist und solange der Ruf an dich noch ergeht, gleichgültig durch wen und auf welche Weise: sei es durch ein inneres oder äußeres Wort, auch wenn es nur zufällig an dich gelangt, durch eine Predigt, ein Buch, eine Zeitung oder irgendeinen sonstigen Eindruck. Das Buch Hiob behauptet als Erfahrungstatsache, dass der Ruf zwei- oder dreimal an jeden ergehe (Hiob 33 29). In der Regel hat er allerdings kein auffallenderes äußeres Gewand als irgendeine andere Mitteilung. Viel mehr als auf seine Form und Art kommt es darauf an, ob er im innersten Herzen des Menschen eine Saite berührt, die für diesen Ton (der aus einer anderen Tonart als der gewöhnlichen seines Lebens und Denkens stammt) noch empfänglich ist.

Hörst Du diesen Ruf, dann raffe dich auf, aber sofort, wo und wie du auch sein magst: im Geschäft, auf der Straße, in Gesellschaft, selbst im Theater oder an jedem anderen Ort. Zögere nicht einen Augenblick mit dem Entschluss, jede Schuld aus deinem Leben zu streichen. Dann wird dir alles leichter und klarer werden. Der finstere Geist und die falschen Vorstellungen, die unmittelbar aus der Schuld hervorgehen, weichen von dir, und zuletzt kommt ein Tag, an dem auch du sprechen kannst: "Da bin ich geworden vor Gottes Augen eine Seele, die Frieden findet."

Bußpsalm

Der Himmel du und Erde kannst umfassen,
Ich fleh’ dich an, du wollst nicht zornig sein,
Nicht deine Grimmigkeit mich büßen lassen;

Denn tief ins Inn’re drang mir schon hinein
Dein scharf Geschoss, und über mir geschlossen
Hast du die Hand, Herr und Gebieter mein,

Und nimmer hat Gesundheit mehr genossen
Mein Fleisch und Bein, seitdem erkannt mein Sinn,
Dass zorn’ge Blicke du auf mich geschossen.
So gingen nun viel Tag’ und Monde hin,
Seitdem kein Friede mir ins Herz gekehret,
Ich fühlte, dass ich schwer belastet bin.

Nun seh’ ich wohl, wie sehr mein Herz beschweret
Von Sünd’, und dass, je länger selbst ich mich
Betrachte, meine Last sich nur vermehret.

Weh, wie in Schlaf versunken ganz war ich!
Jetzt weckt mich meine Torheit; von Gefährde
Frei schien ich, doch es mehrt’ mein Böses sich.

Erbärmlich bin ich worden und zur Erde gebückt,
den ganzen Tag lang geh’
Ich klagend und mit trauernder Gebärde.

Denn meine Lenden tun von Hohn mir weh
Und von der bösen Geister Anfechtungen,
Von denen ich mich stets umlagert seh’.
Und Ungesundheit hat mein Fleisch durchdrungen.

Zerknirscht bin ich, wenn mich der Schmerz durchzieht,
Dass mich die Sünde ganz und gar bezwungen.
Und wenn mich dann jedwede Tröstung flieht,
So seufz’ und heul’ ich mit des Löwen Grimme,
Wenn er in Ketten sich und Banden sieht.

Wend’ ich, o Herr, wie er in Tränen schwimme,
Mit Seufzerhauch den Blick zu dir empor,
So stockt die Träne, stumm wird mir die Stimme.

Aus meinem Herzen steigt kein Trost empor,
Mein Aug’ ist ganz beraubt von Kraft und Glänze,
Seit ich die Herrschaft über mich verlor.

Wer ehedem mir nicht erschien als Schranze,
Vielmehr als echter Freund und Bruder, der
Berennt als Feind mich jetzt mit Speer und Lanze.
Und wer mir wohlgesinnet war vorher,
Floh, als er mich gesehen niederfallen,
So eilig wie die andern, ja noch mehr.

Nun denkt mein Feind mit seinen Mannen allen
Mein festes Schloss, weil er allein mich sah,
Den Graben überschreitend, anzufallen;
Doch merkend, dass nichts Leides mir geschah
Durch seinen Angriff, da zu hoch die Zinnen,
Durch Schimpf und Hohn beleidigt er mich da.
Und dann, um Tod mir endlich zu ersinnen,
Denkt er durch Trug und durch Verräterei
Tagtäglich drauf den Eingang zu gewinnen.

Als mich bedrohte solche Mörderei,
Stellt’ ich mich taub und stumm, als ob mein Wehe
Ich nicht ausdrücken könnt’ in Angstgeschrei.

Auf dich, Herr, der du weißt, was mir geschehe,
Hab’ ich gesetzet nun all mein Vertrau’n,
Fest hoffend, dass es mir danach ergehe.
Ich weiß, ich kann auf dich so sicher bau’n,
Dass du mich fallen lässest nicht zur Erden,
Und mich befreien wirst von Not und Grau’n,

Dass nimmer meine Feinde mich gefährden
An meiner Ehre, noch auch Stoff empfahn
Durch meine Leiden zu Triumphgebärden.

Nicht, als ob krank ich wär’ am eitlen Wahn,
Dass ich vollkommen sei; vielmehr, ich sage,
Dass Sünde ich und Irrtum Untertan.
Drum bin ich überzeugt auch, dass ich trage
Ganz nach Verdienen deiner Geißel Wut,
Jedweden Schmerz und jede Not und Plage.
Dies zu erdulden hab’ ich auch den Mut,
Will nichts von Schonung meiner Sünden wissen,
Nimm du nur, Herr, mich fernerhin in Hut.

Denn immer werd’ ich von Gewissensbissen
Zerfleischt, ob meiner Sünden schlimmer Art;
Der Reu’ und Buße bin ich drum beflissen.

Jedoch als meine Feinde dies gewahrt,
Sind sie nur stärker auf mich losgegangen,
Und haben noch gewalt’ger sich geschart,

Und die da bös, wenn Gutes sie empfangen,
Den Gebern lohnen, sie sind voller Spott,
Weil ich versuche, nun dir anzuhangen.

Verlass mich nimmermehr, Herr Zebaoth,
Ich bitte dich, mich huldvoll zu erretten
Von allen Widersachern, du mein Gott;
Denn nur bei dir kann ich mich sicher betten.

(aus "Sieben Bußpsalmen" von Dante Alighieri, nach einer Übersetzung von Kannegießer und Witte)

Den zweiten Teil dieses Aufsatzes finden Sie hier.


  1. John Bunyan, Pilgerreise zur seligen Ewigkeit (Google Books

  2. "Jenseits von Gut und Böse" ist ein Werk von Friedrich Nietzsche, in dem er eingefahrene Moralvorstellungen kritisiert. Vgl. Wikipedia-Artikel