Alle sogenannte Menschenliebe ist ohne die Wurzel einer starken Liebe zu Gott eine Illusion und ein Selbstbetrug. Denn entweder liebt man in diesem Fall bloß die Liebenswürdigsten oder die, von denen man selbst geliebt wird – stets rasch entschlossen, die Liebe zu vermindern oder ganz aufzugeben, sobald diese Vorbedingungen wegzufallen scheinen. Oder Menschenliebe ist überhaupt bloß ein schöneres Wort für ein ziemlich kühles allgemeines Wohlwollen, das eigentlich mehr ein nicht-angreifendes Verhalten ist, wie es sogar Raubtiere gegen ihre Umgebung haben, wenn sie satt sind.
Bei dieser Art der Menschenliebe können jährlich Millionen geistig oder leiblich verhungern, ohne dass sie sich darum stark bekümmert oder die geringste Entbehrung auferlegt.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)