Was die Menschen unserer Zeit von dem Weg zur dauerhaften Gemütsruhe abschreckt, sind nicht die eigentlichen Zeugnisse des Christentums, denn diese kennen sie meist gar nicht genau. Es ist auch nicht der Ernst des Christentums, denn es gibt viele unter ihnen, die auch bereit wären, Schweres zu tun, wenn sie damit eine feste Überzeugung trostvoller Art, Frieden der Seele oder gar Gesundheit erkaufen könnten. Nein, was sie zurückstößt, das sind die menschlichen Träger dieser Religion, allen voran die offizielle Geistlichkeit, an der sie dies und jenes auszusetzen haben, die dürre Dogmatik, die vielleicht trostlose Erinnerungen aus der Jugendzeit weckt, die christliche Politik, die ihnen nicht besser erscheint als die heidnische, die Sprache Kanaans, die in ihren Ohren veraltet und unangenehm klingt, und schließlich das sektiererische Wesen, das viele Brotbrechen in den Häusern und auch das viele Reden über andere dabei, die übermäßige Ehrung einzelner, die schon Judas und die ersten Jünger ärgerte (sogar dort, wo sie vollberechtigt war, Mk 14 4–10), das Herabsehen auf alle, die nicht zum »Kreis« gehören, und noch anderes mehr.
Überlege dir aber, wenn du selbst in dieser Weise denkst, ob das hinreichende Gründe sind, um eine gute Sache zu verwerfen. Und frage dich, ob du nicht in der heutigen Zeit, in der weder Staat noch Kirche jemanden zum Glauben zwingen können, auch ohne alle Formen direkt zu Christus gelangen könntest, etwa so, wie man auch zu einem jetzt lebenden Menschen gelangen kann, ohne gleich Mitglied seiner Familie zu werden. Formen verlangt Christus gar nicht. Lass zunächst alles Drumherum beiseite und halte dich auch, wenn dir das noch Bedenken macht, von den heutigen Kirchen fern. Aber sprich einmal aus vollem Herzen: »Herr, hilf mir.« Das hat schon vielen geholfen.
Mt 11 28–30 Mt 12 20 Mt 12 32 Mt 12 43–50
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)