Zweierlei erfährt man zu wenig im Leben, wenn man das Glück hat, in den mittleren Klassen geboren zu werden: Wie hart es ist, »fremde Treppen steigen zu müssen«1, um Rat und Hilfe zu suchen; und wie wenig Befriedigung die sogenannten Feinheiten des Lebens gewähren. Die unteren Klassen kennen das Erstere und schätzen das Zweite von sich aus nicht. Sie enthalten daher, unter etwas raueren Ausdrucksformen, mehr edle Menschen, die Überwindung üben, als die höhergestellten, deren größere Feinheit oft nur die besser geschliffene Schale eines recht harten Egoismus ist. In den höchsten gesellschaftlichen Kreisen sieht man mitunter die Nichtigkeit des ganzen Luxus sehr gut ein, kann aber aus ihm nicht heraus.
(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)