2. Mai

Eine der gewöhnlichsten Torheiten religiös angelegter Menschen ist es, Gott irgendetwas »geben« oder ihm durch ihre »Tugenden« gefallen zu wollen. Wir kennen ja Gott eigentlich gar nicht, wie er wirklich ist, sondern haben nur eine ganz entfernte, sehr menschliche Vorstellung von ihm, die obendrein noch unaussprechbar ist oder versuchen muss, sich in mangelhaften Vergleichen auszudrücken.

Soviel aber können wir ganz sicher wissen: dass er im Vergleich zu unserem Denken und Anschauen ein ganz unermesslich »großer Herr« ist, den wir mit unseren Namen und vergleichsweisen Ausdrücken nur herabziehen können und in dessen Auffassung auch jeder Unterschied zwischen den Menschen im Hinblick auf »Tugenden« ganz verschwindend klein sein muss.

Was ihm gefällt, ist wahrscheinlich ganz einfach das Sehnen und Sich-Ausstrecken nach ihm, und was ihm am meisten missfällt, ist sicherlich das satte, reiche, selbstgerechte Wesen. Das ist ungefähr so wie bei uns mit Kindern: Das eine lieben wir wegen seiner natürlichen Anhänglichkeit, das andere aber betrachten wir, trotz aller »Artigkeit«, mit Misstrauen.

Mt 21 31    Mt 23 13–15    Jes 55 8–9

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)