8. März

Wenn man die Geschichte der christlichen Kirche genau und unbefangen betrachtet, ist man oft in starker Versuchung zu glauben, diese Gemeinschaft habe noch niemals ihre ganz richtige, dem Gedanken des Stifters völlig adäquate Ausgestaltung gefunden und das wahre Christentum sei bis auf den heutigen Tag mutmaßlich bloß in einzelnen, und zwar in meistens unbekannt gebliebenen Menschen zu seiner vollen Wirkung gelangt.

So viel ist gewiss, dass wir einer Zeit entgegengehen, in der ein neuer Versuch zu einer größeren Verwirklichung des Christentums Christi gemacht werden wird, von dem alle heutigen Kircheneinrichtungen und vollends alle sozialen und staatlichen Verhältnisse ziemlich stark abweichen.

Von den jetzt bestehenden christlichen Kirchen (allen ohne Ausnahme) kann man sagen, dass sie besser sind als ihr Ruf, wenn auch minderwertig gegenüber ihrem Programm und ihren Ansprüchen. Von allen gilt zurzeit noch das Wort des Propheten Jes 65 8. Sie würden nicht zu ersetzen sein und durch ihren Wegfall in irgendeinem Staat eine ungeheure, durch nichts auszufüllende Lücke zurücklassen.

Alle Streitigkeiten der Kirche mit dem Staat kommen letzlich daher, dass sie nicht das ist, was sie ihrer Idee nach sein sollte, und dennoch die Ansprüche erhebt, die dieser Idee zwar vollständig gebühren, nicht aber ihrer tatsächlichen Verwirklichung. Eine ideale Kirche würde mit ihrem Geist jeden Staat, der ja die ganz gleichen menschlichen Träger hat, in Kürze erfüllen und dadurch mit sich aussöhnen.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)