4. März

Lass dir nur nicht einreden, dass man ohne vollständige Gesundheit nichts Rechtes leiste und daher vor allem gesund sein müsse. Das ist ein Aberglaube vieler guter Leute in unserer Zeit. Während man früher in einer gewissen Kränklichkeit den Stempel der Genialität erblickte und eine robuste Gesundheit für »ordinär« ansah, ist nun umgekehrt die Sorge für den Körper viel zu groß geworden.

Kränklichkeit ist gar kein Hindernis für gute Taten. Die größten Dinge sind schon von Invaliden geleistet worden, und die volle Gesundheit beschränkt in der Tat oft, wenn auch nicht notwendig, die Feinheit des geistigen Empfindens. Danke Gott für die Gesundheit, wenn du sie hast, lass dich aber von deren Mängeln möglichst wenig beschäftigen und behindern. Erachte die Anschauung, die bloß »für die Gesundheit leben« will, als eines gebildeten Menschen unwürdig.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)