17. Juli

Das Schlimme bei der jetzt sehr verbreiteten Neurasthenie1, die ja sonst keine sehr schwere Krankheit ist, ist das: dass sie oft nicht bloß eine Abnahme der Willenskraft, sondern auch der moralischen Urteilsfähigkeit herbeiführt. Die davon Befallenen können dann Hässliches denken und selbst tun, ohne mehr einen hinreichenden Abscheu dagegen zu empfinden. Das führt schließlich zu dem, was die Engländer moral insanity2 nennen und was einen nicht geringen Teil unserer heutigen »schönen« Literatur unglücklich beeinflusst. Wenn auch schon jetzt manches derartige Leben in ganz gewöhnlichem Wahnsinn endet, so muss dennoch diese Sintflut der materialistischen Literatur zuerst noch ihre Zeit gehabt haben und abgelaufen sein, bevor sich die Augen vieler wieder zu den Bergen erheben können, von denen die Hilfe kommt.

Inzwischen sollte wenigstens der Einzelne, wenn er sich angegriffen fühlt, den Kontakt mit der Neurasthenie in Literatur, Kunst, Gesellschaft auf das sorgfältigste vermeiden; denn nervöse Ungesundheit ist (ebenso wie Gesundheit) ansteckend. Richtige, genügende Arbeit und gute Familienverhältnisse sind der beste Schutz, soweit es das Äußerliche betrifft; im Inneren ein ganz aufrichtiger Anhalt an Gott, dem Urquell alles gesunden Lebens. Dieses Verhältnis darf aber eben deshalb gar nichts Fantastisches haben, am wenigsten jene Mischung von Frömmigkeit und sinnlicher Malerei, wie sie etwa in frommen Romanen vorkommt. Das ist geradezu das Verderblichste bei dieser Krankheit, da es das Heilmittel selber verfälscht.

Inferno 3 103–108    Inferno 5 34–39

Im Übrigen gibt es gegen diese Zeitkrankheit der Neurasthenie, deren Ursachen teils geerbt sind und teils in den gesamten Verhältnissen der jetzigen Welt liegen, drei körperliche und zwei geistige Mittel, die zusammenwirken müssen: Schlaf, frische Luft, gute Ernährung mit wenig Fleisch und keinem Alkohol; fester Glaube; und Arbeit für Gottes Reich auf Erden. Andere wirkliche Heilmittel gibt es nicht, und diese kann man nötigenfalls auch zu Hause anwenden.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)


  1. Neurasthenie gehörte im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu den Modekrankheiten einer gehobenen Gesellschaftsschicht. Vgl. Wikipedia-Artikel

  2. Wörtlich übersetzt: moralische Unzurechnungsfähigkeit