1. August

Manche frommen Leute betrachten das Beten, Kirchengehen und alle sogenannten »gottesdienstlichen Handlungen« als eine Art von Pflicht und Werk, gewissermaßen ein Geschäft, mit dem sie Gott gefallen und einen Teil ihrer Lebensaufgaben abtun wollen. Dagegen sollen es vielmehr Mittel zur Erhöhung unserer Seelenkraft sein, die nur insofern einen Wert haben, als sie diesen Zweck erfüllen. Wer nicht besser aus der Kirche kommt, als er hineingeht, oder nach einem Tischgebet seine Seele nicht ganz in das Vergnügen des Essens und Trinkens versinken lässt, der täte besser daran, beides zu unterlassen, bis ihm der Sinn dieser Handlungen klarer wird.

Gott will nichts für sich, sondern alles für uns – unsere Religionslehrer stellen ihn aber als einen beständig fordernden »Vater« dar, den man so gut wie möglich beschwichtigen muss, und das ist sogar manchen ganz frommen Leuten oft unbequem. Von dem Glück eines beständigen Lebens mit Gott haben im Ganzen genommen nur wenige Menschen eine recht überzeugte und erfahrene Vorstellung, und es ist ganz unmöglich, diese Vorstellung zu lehren.

Das ist ja der Grundfehler alles Religionsunterrichtes, der eigentlich nur eine vorbereitende Einführung sein kann. Am besten ist er, wenn er keinen Überdruss in den Seelen erzeugt, die den größten Teil davon noch gar nicht verstehen. Mich wenigstens hat er früher weit mehr abgestoßen und gehindert, als gefördert.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)