23. November

Wenn es dir im Inneren völlig wund zumute ist oder du dich nicht mehr recht Herr deiner Nerven fühlst, dann vermeide in diesem Zustand, Menschen zu begegnen. Klage es Gott, nicht ihnen, und tritt ihnen schon wieder mit einer gewissen Fassung entgegen. Solange das nicht möglich ist, ziehe dich zurück, so wie es instinktmäßig die Tiere tun, wenn sie sich krank fühlen. Die heutigen Menschen aber drängen sich dann erst recht anderen auf, die ihnen doch meistenteils nicht helfen können.

Hat man als relativ Gesunder mit solchen gedrückten Willenskranken oder nervös gereizten Menschen zu verkehren, dann darf man sie nicht hart tadeln oder zum Sich-Zusammennehmen ermahnen oder ihnen ihr Leiden als wenig bedeutend ausreden wollen; das alles verbittert sie nur. Sachte mit ihnen umgehen, alles Aufregende aus dem Weg räumen, ihnen Ruhe und Erfrischung verschaffen, wenn es daran fehlt, und auf ihre augenblicklich gereizten Worte kein großes Gewicht legen, das ist meistens das Beste. Sehr guten Leuten wird in ihren schwachen Stunden oft damit geholfen, dass sie anderen helfen müssen; sie können sich daran am leichtesten aufrichten.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)