10. Mai

Das Geheimnis der Religion ist in der Theorie sehr einfach: an Gott wirklich glauben und danach leben. Aber die Ausführung ist schwerer. Daran studiert die Christenheit schon seit 1900 Jahren, doch so recht gelingt es ihr nicht. Tausende von Gelehrten schon versuchten es zu lehren und kamen damit selbst nicht zurecht.

Lk 10 27

Zu Ps 1 und Ps 2: Die Ablehnung des Gottesglaubens ist für jemanden, der ihn nie selbst intensiv empfunden hat, sehr leicht. Von Anbeginn der menschlichen Geschichte bis auf Schopenhauer und Nietzsche haben sich damit schon viele eine vorübergehende Bedeutung erworben, denn ein dafür empfängliches Publikum ist stets zu finden gewesen. Aber diejenigen, die Gott aus Erfahrung kannten, überzeugten sie nicht im entferntesten mit ihren bloß negativen Beweisen, die keine sind. Und gleichermaßen würde es ihnen schwerfallen, auf den Trümmern des Judentums und Christentums eine ebenso lang haltbare, für jedermann – Geistreiche wie Einfältige – brauchbare und in allen Lebenslagen trostvolle Weltanschauung aufzubauen. Die meisten haben es nicht einmal versucht, sondern sich mit dem Zerstören begnügt, das auch in noch kommenden Zeiten niemals einen dauernden Erfolg haben wird. Die Welt bedarf zu sehr des positiven Christentums.

Mt 24 35    Mt 22 44

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)