10. März

Das viele Unrecht, das in der Welt – scheinbar ungestraft – geschieht, ist für manche nicht sehr nachdenkliche Leute ein Hindernis, an einen wirklich lebendigen und gerechten Gott zu glauben. Ich will die Frage beiseitelassen (die nicht durch einen Beweis zu erledigen ist), ob nicht jedem Unrecht ganz notwendig eine innere Strafe auf dem Fuße folgt, sondern nur sagen, die mangelnde Strafe würde nach meiner Ansicht weit eher zu dem Schluss berechtigen, dass nicht alle Rechnungen hier ausgeglichen werden, sondern es notwendig noch ein weiteres Leben geben müsse. Denn wäre dies nicht der Fall und auch kein Gott vorhanden, so würde es überhaupt kein Unrecht und kein Unrechtsbewusstsein geben, sondern der Mensch würde mit der gleichen angeborenen, nicht etwa bloß angewöhnten, Naturnotwendigkeit und Gemütsruhe rauben und morden wie das wilde Tier des Waldes. Da dies offenbar nicht so ist, ist eine ausgleichende Gerechtigkeit ein Postulat der Vernunft, und diejenigen vergehen sich schwer gegen die Vernunft, gegen die Menschheit und gegen Gott, die an diese göttliche Gerechtigkeit nicht glauben wollen.

Jer 12 1    Jer 12 5.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)