10. Juni

Was die »Kraft« Blumhardts und anderer historisch beglaubigter Wundertäter ausmachte, das war wahrscheinlich einfach die uneigennützige Liebe. Es ist schade, dass man das Adjektiv beisetzen muss, aber notwendig. Das erklärt auch das Schwankende und die zeitweise Abnahme dieser Kraft in ihm selbst, wie in den unendlich vielen Nachahmern solcher außergewöhnlicher Menschen.

Denn diese Liebe ist wie der Glaube (mit dem sie untrennbar zusammenhängt) die große Perle im Evangelium, um die man alles andere hingeben muss. Und sie wird unaufhörlich auf die Probe gestellt und gebraucht, so dass sie in jedem Augenblick gegenwärtig sein muss. Auch nimmt sie wie ein Feuer immer zu oder ab; sie kann nicht beständig auf einem gewissen maßhaften Niveau erhalten werden, und sie vorzutäuschen ist unmöglich. Man kann sich und anderen am Ende noch Glauben einbilden und einreden, Liebe aber nicht. Da ist nur Wahrheit denkbar, jeder Schein erlebt seinen Prüfungstag und rächt sich dann auf das furchtbarste. Dieses Heiligtum der Menschheit lässt sich nicht ungestraft verfälschen.

Der Schlüssel des Glaubens ist eigentlich die Liebe. Solange noch eine, vielleicht auch nur leise, Spur von Widerwillen gegen Gott oder Christus im Herzen ist, ist der Glaube schwer, nachher, wenn das einmal ganz verschwunden ist, leicht. Darüber hilft keine Theologie hinweg; es ist der einzige Weg, auf dem man zum wirklichen Glauben gelangt, und wenn jemand behauptet, er könne nicht glauben, so ist das meistens richtig, hat aber diese Ursache, die man ihm direkt auf den Kopf zusagen kann.

Pfingst-Vorabend
(2 Sam 5 2)

"Nun seid ihr rein." Noch einen Tag Geduld;
Noch einmal halte aus, mein alt Vertrauen;
Schon regt es sich, und bald wird Gottes Huld
In vollen Strömen auf dich niedertauen.

Minuten noch. O Herz, verzag mir nicht!
Ich hör es rauschen in den Maulbeerbäumen.
Nun sprich dein Wort, Herr: "Auf und werde Licht."
Dann kommt der Tag und endet alles Träumen.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)