27. Januar

Auch die Entdeckung des Pithekanthropus1 oder sonst irgendeines menschenähnlichen Affen würde die Wahrheit der Bibel nicht erschüttern, so wenig der Übergang von dem ptolemäischen2 zu dem kopernikanischen Weltsystem oder die Entdeckung irgendwelcher neuen Länder oder Sterne sie erschüttert hat.

Wenn man zunächst an der Lehre Christi festhält und an den Tatsachen, die seine Erscheinung auf Erden begleiteten, dann kommt man über diese modernen Zweifel (die sich überdies mehr an das Alte Testament richten) ziemlich leicht hinweg. Dann kann man es sogar billigen, wenn sich der Abstand zwischen den Menschen und den übrigen Gottesgeschöpfen zum Vorteil der Letzteren ein wenig vermindert und sie demgemäß etwas besser behandelt werden als bisher.

Alle Versuche, die modernen Naturwissenschaften mit der Religion auszugleichen oder alle natürlichen Erscheinungen direkt religiös zu erklären, sind wenig fruchtbar und gegenüber dem Geist der jetzigen Generation auch ziemlich fruchtlos. Die Naturwissenschaft soll ihren ganzen Bereich möglichst aufzuklären versuchen und dabei von keinen Voraussetzungen ausgehen, die nicht wissenschaftlich erklärbar sind. Aber sie soll sich auch mit diesem Feld ihrer Tätigkeit begnügen und nicht behaupten, dass alles, was nicht erforschbar sei, nicht bloß für die Wissenschaft, sondern überhaupt nicht existiere. Hierin liegt der eigentliche Streitpunkt.

Ich glaube auch an Naturgesetze; aber eben weil es »Gesetze« sind, können sie nicht von ungefähr oder von selbst entstanden sein, sondern bedingen einen die Natur beherrschenden Geist, der sie gegeben hat. Wäre die Welt ein reines Chaos, ohne alle Gesetze ihres Bestehens (sofern man sich überhaupt eine solche Möglichkeit, auch bloß für kurze Zeit, denken kann), dann bestünde sie wirklich ohne Gott, sonst nicht.

Was aber Gott ist, das wird keine Theologie, Philosophie oder sonstige menschliche Wissenschaft jemals ergründen und definieren können; die Versuche dazu unterscheiden sich bloß graduell von den niedrigsten Vorstellungen und Formen der Anbetung. Selbst Christus hat sich darüber niemals ausführlicher ausgesprochen, als in Joh 4 24 zu lesen ist. Ansonsten hat er sich bloß an die Tatsache als solche gehalten oder etwa noch den sehr menschlichen Vergleich eines Vater-Kind-Verhältnisses zur Erläuterung herangezogen. Das ganze Alte Testament enthält ebenfalls nichts Eingehenderes als die sehr schöne Stelle 2 Mos 34 6–7.

Die Tatsache, dass es einen Gott gibt und dass Vollkommenheit und Güte sein Wesen ist, muss uns also für dieses Erdenleben genügen. Im Übrigen zweifle ich nicht, dass er unendlich viel großartiger auch in der Beurteilung der menschlichen Handlungen ist, als wir es uns vorstellen können, und sogar oft, als wir es wünschten. Begreifen und definieren oder formulieren können wir Gott nicht, wohl aber lieben und dann das erfahren, was schon dem alten Israelitenvolk in 2 Mos 20 5–6 und  2 Mos 34 10 zugesagt worden ist und was sich noch heute ganz genauso erfahren lässt.

Das ist das, was in der an sich schönen, oft zitierten Stelle in »Faust«3 fehlt.

Name ist Schall und Rauch

sehr richtig, und

Wer darf ihn nennen,
und wer bekennen:
»Ich glaub ihn!«?

Aber es ist doch eine Realität dahinter, die auf unser Leben Einfluss gewinnen soll und welche die Lebensgeschichte Fausts – und Goethes – anders und besser hätte gestalten können.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)


  1. Ein Urmensch, dessen Fossilien in Ost-Java gefunden wurden und der heute als Homo erectus bekannt ist. 

  2. Das ptolemäische Weltsystem sah die Erde als Mittelpunkt, um den sich die Sonne und alle Planeten drehen. 

  3. Johann Wolfgang von Goethe: Faust: Eine Tragödie – Kapitel 19