3. Februar

Christus selber hat Gott niemals als einen zornigen Vater dargestellt, selbst nicht in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, wo dies am nächsten gelegen hätte. Und auch das Alte Testament hat diese Auffassung in seinen schönsten Stellen nicht.

Jes 43 18–25    Jes 48 9–11.

Die Menschen aber haben es später zustande gebracht, mit dieser Art von »Gottesfurcht« vielen Millionen den Gottesglauben verhasst zu machen. Der »Zorn« Gottes besteht wesentlich darin, dass er sich aus unserem Leben entfernt, wodurch das Dasein, trotz aller irdischen Schätze und aller Fortschritte in Wissenschaft, Kunst und Verkehr, innerlich so öde und trostlos wird, wie es jetzt ist. Die Landschaft ist die gleiche, sie hat sich vielleicht sogar mehr kultiviert. Aber die Sonne fehlt, und der Segen, der in dem menschlichen Tun liegen sollte und könnte, ist nicht vorhanden.

Diese Strafe tritt ganz von selbst ein; sie liegt in der göttlichen unabänderlichen Weltordnung, die frevelhaft missachtet wird. Aber auch die Versöhnung ist gewiss, wenn der Mensch sich aufrichtig und reuevoll zu ihr zurückwendet.

Gottes Segen

Morgens Tau und abends Regen
Hast du deinem Volk verheißen;
Unaufhörlich quillt dein Segen
Über uns in tausend Weisen.

Millionen sind gestorben,
Und kein Tag war ohne Bangen;
Aber keiner ist verdorben,
Welcher treu an dir gehangen.

Niemand könnt’ es noch ergründen,
Was er ist, der Gottessegen;
Eines bloß kann jeder finden:
Alles ist an ihm gelegen.

Schlafenszeit mit leisem Tritte
Kommt dem einen er gegangen,
Während um des Nachbars Hütte
Stete Donnerwolken hangen.

Einen fliehen alle Freuden
Im Besitz der besten Gaben,
Während andre in dem Leiden
Vollgefühl des Glückes haben.

Darf der Enkel, Herr, der Deinen,
Ihrer Treue Frucht genießen,
muss ein andrer, zu der seinen,
Auch die Schuld der Eltern büßen?

Gönnst du nimmer, Herr, uns Sündern,
Dies Geheimnis auszurechnen,
Wolle dennoch unsern Kindern
Leid und Freude immer segnen.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)