26. August

Verbrechernaturen sind Leute, die fähig sind – sei es aus Launenhaftigkeit oder um des eigenen vermeintlichen Vorteils willen – jede Pflicht zu verletzen und alle Menschen zu opfern, die ihnen dabei in den Weg kommen. Sie finden sich in den angesehensten Stellungen, und es ist bloß Zufall oder Gnade Gottes, wenn sie nicht Verbrechen begehen. Sie können aber auch, ohne allen Zweifel, durch die Gnade Gottes und den eigenen freien Willen ihre böse Natur ändern und sogar Heilige werden. Daran darf man nie zweifeln.

Himmelsnaturen sind Menschen, die von Natur allem Schlechten und Gemeinen abgeneigt und dagegen stets geneigt sind, sich für andere zu opfern. Man muss leider auch hier beifügen: Sie können sich verschlechtern; am häufigsten geschieht dies durch ungeeignete Ehen.

Frage dich selbst in einer stillen Stunde, zu welchen Naturen du gehörst (woran du ja nicht schuld bist), und fasse den Entschluss, unter allen Umständen siegreich im Guten dieses Leben zu verlassen.

Die menschlichen Lose scheinen ungerecht verteilt, wenn man sieht, wie verschieden die Anlagen der Menschen und die Familien sind, in die sie hineingeboren werden. Doch es besteht der freie Wille, und daher gehen oft aus den allerbesten Verhältnissen Egoisten und aus dem Sumpfboden edle Menschen hervor. Dies ist etwas gänzlich Unberechenbares und jedenfalls nichts Unabänderliches.

Die meisten Menschen nehmen, wenn man sie nach ihrem tatsächlichen Verhalten beurteilt, scheinbar eine Mittelstellung zwischen den oben genannten Extremen ein. Aber in der Grundlage ihrer ursprünglichen Natur gehören sie doch zu der einen oder der anderen Richtung. Man tut gut daran, das nie zu übersehen, wenn man nicht große Enttäuschungen erleben will.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)