22. August

Wenn man zu einem wahren Lebensgenuss gelangen will, muss man sich vor allem klarmachen, worin dieser eigentlich besteht – und dann entschlossen allem aus dem Weg gehen, was ihn hindert. Leider kommt man dazu gewöhnlich erst, wenn das Leben schon mehr als halb vorüber ist, und wenn es kein weiteres gäbe, dann wäre ein gewisser Grad von Pessimismus die unausbleibliche Folge dieser Erfahrung.

Wenn man in einer bestimmten Sache einmal durch reifliche Überlegung, Prüfung aller Gründe dafür und dagegen oder noch besser: durch die eigene Lebenserfahrung zu einer bestimmten Ansicht gelangt ist, dann muss man damit abschließen und alle weiteren Studien darüber aufgeben können. Zweifel lassen sich gegen alles erheben, sogar gegen Dinge, die längst abgetan sind, und der unglücklichste Zustand der Seele ist der sogenannte Skeptizismus, der zuletzt überhaupt an allem zweifelt.

Das Herz muss am Ende einmal "fest werden". Wenn der Apostel sagt, das geschehe nur "durch Gnade", dann ist das zwar richtig, aber diese Gnade, die angeboten wird, muss man eben annehmen und, wenn man sie einmal hat, festhalten. Sonst ist man ein Tor und verdient es, ewig unruhig zu sein.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)