Idealismus im praktischen Leben

(aus Carl Hilty: »Glück«, Teil 1, Leipzig/Frauenfeld 1910)

Für viele, selbst sehr wohlgesinnte Leute, gilt es heute im Grunde als eine unbezweifelbare Tatsache: Der Idealismus bilde zwar eine sehr achtbare Anschauung und sei nützlich zur Erziehung der Jugend, jedoch später im Leben sei damit wenig anzufangen. In der Theorie — so sagen sie — und für die Erziehung möge diese Haltung vielleicht manches für sich haben, aber in der Praxis nehmen sich die Sachen, "die sich hart im Raume stoßen", doch ganz anders aus. Sie teilen also das menschliche Leben in zwei Abschnitte: einen, in dem man sich in schönen Gedanken und Gefühlen wiegen darf, sogar dazu ermuntert wird, und einen anderen, in dem man sich, unsanft erwachend, mit der Wirklichkeit abfindet, wie man kann.

Kant hat in einer seiner kleinen Schriften bereits vor hundert Jahren bewiesen, dass der Satz: "Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" einen lächerlichen und eines denkenden Menschen unwürdigen Widersinn enthalte. Der konsequente "Realismus" unserer Tage lässt daher den Idealismus auch nicht einmal mehr in der Theorie gelten und gelangt zu der brutalen Idee eines "Kampfes ums Dasein". In diesem Kampf seien Rücksichtslosigkeit und Egoismus erlaubt, ja sogar von einer vernünftigen Weltanschauung, die mit Realitäten rechne, mehr oder weniger geboten. Für die modernen "Realisten" geht es nicht darum, ob eine solche Weltordnung, bei der es nur wenige gut haben können und viele schlecht haben müssen (weil die vorhandenen Lebensgüter lange nicht für alle ausreichen), gut oder gerecht sei. Sie geben sogar zu, dass sie eher hart, unvernünftig und ungerecht genannt werden müsse. Aber der Einzelne, der ohne seinen Willen in diese Weltordnung gestellt sei, können dies nun einmal nicht ändern und müsse eben sehen, dass er wenigstens Hammer und nicht Amboss sei.

Das ist der eigentliche Kern der Lebensweisheit vieler gebildeten Menschen unserer Tage.

Damit hört im Grunde das Bedürfnis einer moralischen Erziehung auf. Der Religions- oder Moralunterricht in den Schulen könnte gänzlich geschlossen und nach dem genialen Vorschlag von Saint-Just1 durch einige moralpolizeiliche Verordnungen der Regierung ersetzt werden, die täglich an den Straßenecken angeschlagen werden.

Die junge Generation wird bei dieser Theorie ungeheuer vernünftig und praktisch werden, ganz auf raschen Erwerb und gutes Fortkommen gerichtet, frei von allem Edelmut, der ihr dabei nur hindernd in den Weg treten könnte. Die meisten gehen darüber freilich schon frühzeitig geistig, körperlich und sittlich zugrunde; andere bedauern vielleicht zu spät den Verlust ihrer Jugend für etwas, das im besten Fall des Strebens nicht wert war: einen unsicheren Besitz, der beständig gegen tausend Mitbewerber verteidigt werden muss und Verbitterung bei allen im Gefolge hat, den Besitzenden und den Nichtbesitzenden. — Zufrieden, glücklich ist dabei eigentlich niemand.

Das ist das heute schon offenbare Endergebnis dieser vorwiegend "praktischen" Denkungsart.

Ich halte meinerseits den Idealismus für einen Glauben, eine innere Überzeugung, die trotz ihrer unbedingten Notwendigkeit für den Bestand der Welt nicht bewiesen werden kann. Freilich bedarf sie auch keines Beweises für den, der sie hat, und überhaupt gelangt niemand durch Lehre, auf bloß verstandesmäßigem Weg zu ihr.

Dies ist an sich nichts Auffallendes. Auch die Folgerichtigkeit der menschlichen Vernunft lässt sich nur durch die Erfahrung beweisen. (Wer das nicht annimmt, lese einmal aufmerksam Kants "Kritik der reinen Vernunft", das einzige wahrhaft grundlegende philosophische Buch, das es gibt; er wird sich wohl überzeugen müssen.) Ebenso würden die Wahrheiten der Religion für uns unbewiesen bleiben, wenn nicht die sittliche Kraft, die aus ihrer Annahme folgt, den Beweis dafür bildete. Was eine Kraft ist, muss etwas Wirkliches sein; einen anderen Beweis der Wirklichkeit gibt es überhaupt nicht. Nicht einmal die Wahrnehmungen unserer Sinne dürften uns überzeugen, wenn nicht die eigene und die Erfahrung aller uns versicherte, dass wir ihnen — zwar nicht unbedingt, aber unter gewissen normalen Verhältnissen — trauen können, ohne Täuschungen ausgesetzt zu sein. Was den Menschen überzeugt, ist Erfahrung. Was in ihm den Wunsch und die geistige Empfänglichkeit erzeugt, eigene Erfahrungen zu machen, ist das Zeugnis derer, die sie bereits gemacht haben.

Ein solches in kurzen Worten abgelegtes Zeugnis für den "Idealismus im praktischen Leben" enthält die kleine Schrift eines Jugendfreundes von Goethe, des späteren russischen Generals von Klinger2, die sich in seinen jetzt kaum noch gelesenen Werken findet. Es sind nur wenige Sätze folgenden gewichtigen Inhalts:

Wie es möglich ist, ohne Intrige, selbst im beständigen Kampf mit Schlechten, durch die Welt zu kommen

1
Vor allem muss er (das heißt derjenige, der dies versuchen will) an das, was Menschen Glück machen nennen, gar nicht denken; streng und kräftig auf geradem, offenem Weg, ohne Furcht und Rücksicht auf sich, seine Pflicht erfüllen; also rein von Sinn und Geist sein, dass keine seiner Handlungen mit dem schmutzigen Flecken des Eigennutzes bezeichnet sei.

Ist von Recht und Gerechtigkeit die Rede, so muss ihm das Große und Bedeutende eben das sein, was das Kleine und Unbedeutende.

2
Er muss zweitens zu seiner Erhaltung und reinen Verhaltung frei von der Sucht zu glänzen, frei von der schalen Eitelkeit und der unruhigen Ruhm- und Herrschsucht sein, durch deren rastloses Antreiben die Menschen auf dem Theater der Welt die meisten ihrer Torheiten begehen und diejenigen, auf und durch welche sie wirken wollen, empfindlicher und tiefer beleidigen, als durch die kräftigste, reinste, ja kühnste Tugend selbst.

3
Drittens muss ein Mann von solchem Gefühl nur auf dem Theater der Welt erscheinen, wann und wo es seine Pflicht erfordert, im Übrigen aber als ein Eremit — in seiner Familie, mit wenigen Freunden, unter seinen Büchern — im Reiche des Geistes leben.

So nur vermeidet er das Zusammenstoßen mit den Menschen über Kleinigkeiten, um die sich das Wesen und Tun derselben im Ganzen dreht, und nur so kann er Verzeihung für seine Sonderbarkeit finden, da er wirklich keinen Platz einnimmt, die Gesellschaft durch seinen Wert nicht drückt und nichts von ihr fordert, als nach getaner Pflicht wieder ruhig leben zu dürfen.

Reizt er dann den Neid, flößt er dann noch Hass ein, so gründen sich beide auf das, was der Ankläger selbst nicht gern ausspricht, worüber er wenigstens nicht wagt, dem Angeklagten mit Vorwürfen vor die Stirn zu treten.

Wer es nun dahin gebracht hat, dem gelingt gar vieles auf der Welt; dem gelingt sogar, woran er nicht denkt und was er nicht als Zweck beabsichtigt: das endlich zu erhalten, was die Menschen im großen Sinne Glück nennen.

4
Ich setze nur das noch hinzu: Er muss sich vor allem (eigenwilligen) Reformationsgeist und seinen Zeichen hüten, muss nie mit Leuten, die nur Meinungen haben, über Meinungen streiten, muss von sich selbst und über sich selbst nur im Stillen reden und denken, das heißt in seinem tiefsten Innern.

Ich habe meinen Charakter und mein Inneres nach Kräften und Anlagen entwickelt, und da ich dies ebenso ernstlich als ehrlich tat, so kam das, was man Glück und Aufkommen in der Welt nennt, von selbst.

Mich selbst habe ich schärfer und schonungsloser beobachtet und behandelt als andere. […] Ich habe nie eine Rolle gespielt, nie die Neigung dazu empfunden und immer den erworbenen und festgehaltenen Charakter ohne Furcht dargestellt, so dass ich nun die Möglichkeit nicht mehr fürchte, anders sein oder handeln zu können. Vor der Versuchung anderer ist man nur sicher, wenn man sich selbst zu versuchen nicht mehr wagen darf. — Viele Geschäfte sind mir aufgetragen worden; aber nach ihrer Beendigung verbrachte ich die übrige Zeit in der tiefsten Einsamkeit und der möglichsten Beschränktheit.


Der Urheber dieser besonders für das politische Leben wichtigen Erfahrungssätze versucht keine Art von philosophischer Begründung; er gibt sie einfach als Resultate seiner bewegten, zum Teil sogar abenteuerlichen Laufbahn, und sie sind uns als solche auch bei weitem wertvoller, als wenn sie aus irgendeiner philosophischen oder theologischen Studierstube stammten, deren Insasse mit dem Leben vielleicht nur in sehr geringe Berührung gekommen ist.

Wir wollen sie daher unsererseits auch nicht durch eine Übersetzung in das Abstrakte, die uns selber nicht überzeugen würde, verdünnen, sondern bloß noch mit einigen ebenfalls rein praktischen Bemerkungen begleiten.

Ad 1: Der wahre Idealismus besteht offenbar nicht darin, dass man sich über die Wirklichkeit täuscht oder darüber absichtlich hinwegsieht, indem man sich von ihr gänzlich zurückzieht und in eine eigene Traumwelt einspinnt. Er besteht darin, dass man die Welt tiefer fasst, als dies gewöhnlich geschieht, und sie, zunächst in sich, überwindet. Denn wir sind von Haus aus auch ein Stück Welt, und es gibt keine Möglichkeit ihrer Überwindung, wenn nicht zunächst dieses Stück überwunden ist durch feste Prinzipien und gute Gewohnheiten.

Daraus ergibt sich die richtige Beurteilung des "Erfolges", von dem Klinger in seinem ersten Satz sprechen will. Ein Mann unserer Zeit, der sich des Erfolges in hohem Maße rühmen konnte und ihm zeitweise in seinem Leben auch mit ziemlich weitgehendem Eifer gedient hat (Thiers3), hat dennoch einmal den merkwürdigen Ausspruch getan: "Menschen mit Grundsätzen sind von der Verpflichtung befreit, erfolgreich zu sein; Erfolg ist nur ein Muss für die Geschickten."4 Das will einerseits sagen: Man muss unter einem unbeschädigten Durchkommen durch die Welt nicht das verstehen, was unter dem Namen Erfolg, noch besser mit dem französischen Worte "succes" für viele Menschen das Ziel ihres Strebens ausmacht. Das ist etwas ganz anderes; wer auf das spekuliert, der mag auf Gemütsruhe, Frieden mit sich selbst und anderen und in den meisten Fällen auch auf Selbstachtung von vornherein verzichten. Zum wirklichen Erfolg im Leben, das heißt zur Erreichung der höchstmöglichen menschlichen Vollkommenheit und wahren nutzbringenden Tätigkeit gehört sogar notwendig ein öfterer äußerer Misserfolg.

Diejenigen, die sich für das Letztere entschließen, müssen dann weiter den Weg zum Rechthandeln-Können finden, um zuletzt zur Gewohnheit des Rechttuns zu gelangen, die allein entscheidend wirkt. Den andern hilft alle Philosophie, Moral oder Religion gar nichts zum wahren Leben; sie sind dafür tot und taub. Von denen gibt es aber heute viele und in allen politischen und kirchlichen Parteien. Bemerken wir übrigens, ein welterfahrener Mann wie Klinger sagt nur: "Wie es möglich ist." Leicht ist es nicht.

Unter "Durchkommen" versteht Klinger also eine ehrliche Lebensarbeit mit einem Sieg am Schluss beziehungsweise im Ganzen betrachtet, wie sie allein der Wunsch und die Hoffnung eines tapferen und rechtschaffenen Menschen ist. Der stete Erfolg ist nur für Feiglinge notwendig. Ja, man kann, wenn man will, noch weiter gehen und sagen: Das Geheimnis der größten Erfolge liegt im Nichterfolg, sofern nur die Sache selbst eine bedeutende ist. Die Menschen, die die größte Anziehungskraft besitzen und in unauslöschlicher Erinnerung bei ihrem ganzen Geschlecht geblieben sind, erreichten ein so großartiges Lebensziel keineswegs durch den Erfolg. Cäsar und Napoleon würden in der Geschichte nur als Tyrannen fortleben ohne Brutus, Waterloo und St. Helena; die Jungfrau von Orleans als ein tatkräftiges Weib, wie es viele gab, ohne ihr Martyrium; Hannibal würde unerträglich sein, wenn Karthago gesiegt hätte. Sulla und Augustus, die erfolgreichsten Menschen der römischen Geschichte, können einen inneren Widerwillen des Lesers ihrer Biographien niemals ganz überwinden. Washington ist kein in den weitesten Kreisen populärer Held geworden; Robert Lee wird in der Geschichte späterer Zeiten von einem Zauberglanz des Ruhmes umgeben sein, der Ulysses Grant fehlt und den auch Abraham Lincoln bloß durch sein tragisches Ende erlangt hat. Ein falscher Verräter wie Karl I. von England wird heute noch von vielen hochgeehrt, die Cromwell, den heldenhaftesten Mann der neueren Geschichte, hassen. Wäre dieser auf dem Schafott und jener im Besitz des Erfolges gestorben, so würden die Rollen umgekehrt verteilt sein. Auch das Leben des Kaisers Friedrich III. ist ein Beispiel und wird es in der Zukunft, in einer besseren Zeit als der jetzigen, noch mehr sein. Das größte von allen Beispielen hat das Kreuz, den damaligen Galgen, zu einem Ehrenzeichen für die ganze Welt gestempelt, und die römische Weltmacht ist daran zugrunde gegangen. Man kann sich, auch ganz menschlich und untheologisch aufgefasst, den geradezu beispiellosen Erfolg des Christentums nicht als möglich vorstellen, sofern es die Schriftgelehrten seinerzeit annehmbar gefunden hätten.

Etwas von diesem Misserfolg hängt allen wahren Lebenszielen an; darauf mache dich gefasst, junger Leser, wenn du dein Leben nicht in den gewöhnlichen Wegen der Alltäglichkeit verlieren willst. Diese Art Missgeschick trägt aber eben auch nicht mehr den alltäglichen Namen Unglück, sondern die Dornenkrone des "Kreuzes", die eine Krone ist und ihre Natur nicht verleugnet.

Ad 2: Wir können hier noch beifügen: Kein "Streber" erreicht jemals sein wirkliches Ziel. Es ist zwar wunderbar genug, was die menschliche, auf einen Punkt beständig gerichtete Aufmerksamkeit und Energie zeitweise zu erreichen vermögen, und die Beispiele dafür liegen auf allen Straßen vor Augen. Aber im Grunde wollen doch diese Menschen nicht reich, geehrt, mächtig oder gelehrt werden, sondern sie halten eben diese Eigenschaften für die notwendigen Vorbedingungen zu Glücksempfindung. Sobald man jemandem die vollständige Überzeugung beibringen könnte, dass er durch Reichtum nicht nur nicht glücklich, sondern im Gegenteil in seiner Empfindung unglücklich werde, so würde er mit höchster Wahrscheinlichkeit dieses Streben aufgeben.

Von allen Strebern sind die gebildeten die unglücklichsten. Sind sie noch auf den unteren Stufen der Leiter, die sie zu erklimmen suchen, dann verzehrt sie der Neid gegen alle Höherstehenden — die kläglichste aller Empfindungen, die auch den Menschen in seinen eigenen Augen am tiefsten herabwürdigt. Sind sie höher gestiegen, werden sie dazu noch von der beständigen Furcht vor Nachstrebenden gepeinigt, deren Gedanken und Absichten sie ja aus eigener Erfahrung nur zu gut kennen. Versuchen sie sich dagegen durch Cliquenbildung zu versichern, sind sie niemals geschützt gegen Verrat aus diesem intimen Kreise, der jeden fallen lässt, welcher dem Fall nahe zu sein scheint. Betäuben sie endlich die beständige innere Unruhe durch Genuss, verlieren sie dadurch die Eigenschaften, die sie zu ihrer Erhaltung am meisten bedürfen. Übrigens sind auch die Chancen nicht zu groß. Unter zehn Strebern erreicht sicher höchstens einer das Gesuchte, und auch von diesen "Glücklichen" ist noch die Mehrzahl vor ihrem Ende nicht glücklich zu preisen. Wenn die Beispiele nicht so alltäglich wären, dass jedes Zeitungsblatt solche enthält, würde ich einige zitieren.

Schon ein Prophet des israelitischen Altertums5 schildert dieses wenig befriedigende Resultat des gewöhnlichen Lebens und Strebens mit den klassischen Worten, die man heute ohne weiteres wiederholen kann:

Schaut, wie es euch geht: Ihr säet viel und erntet wenig; ihr esset, ohne jemals satt zu werden; ihr trinket, ohne volle Befriedigung; ihr kleidet euch gut, ohne warm zu bekommen, und wer von euch Geld verdient, legt es in einen löchrigen Beutel. (Haggai 1, 6)

Nichts ermüdet mehr als selbstsüchtiges Streben. Die Kraft, die dabei entwickelt wird, ist nichts als Fiebersteigerung, die das Kapital der Kräfte aufzehrt. Die gesunde Kraft, die sich stets erneuert, kommt aus dem uneigennützigen Wirken für einen großen Zweck, und bei diesem allein findet man in den Menschen aufrichtige Hilfe. Das ist auch der wahre Grund, weshalb die einen Menschen bei ihrer Arbeit ohne Kuren gesund bleiben und alt werden, die anderen hingegen halbe und ganze Jahre ohne Erfolg in Bädern zubringen. Die vielen "nervösen" Leiden unserer Zeit haben großenteils einen solchen Ursprung und können auch bloß durch ein Gesundwerden des Geistes und Willens kuriert werden.

Ad 3: Eine gewisse Neigung zur Einsamkeit ist absolut notwendig, sowohl für die ruhige geistige Entwicklung als auch für das wirkliche Glück überhaupt. Das wirklich erreichbare, von allen Zufälligkeiten des Lebens unabhängige Glück besteht in einem Leben in großen Gedanken und in fortwährender ruhiger Arbeit für diese Gedanken. Dies schließt von selber alle unnütze "Geselligkeit" aus. "Alles andere ist im Grunde eitel und vereitelt nur." Auf diese Weise allein gelangt der Mensch dazu, sich nach und nach aller "Stimmungen" zu entäußern, auch die Menschen nicht mehr zu wichtig zu nehmen, sondern die Veränderungen ihrer Meinungen und Neigungen mit ruhigem Sinn zu betrachten und das, was hoch unter ihnen ist, eher zu vermeiden als aufzusuchen — soweit es seine Neigung betrifft und mit seinen Berufspflichten nicht im Widerspruch steht.

Ad 4: Dieser letzte Passus enthält im Wesentlichen einen kurzen Abriss der Klingerschen Lebensphilosophie. Die Lebensgänge der Menschen mögen, im Einzelnen betrachtet, verschiedenartig erscheinen, im Ganzen und Großen zeigen sie doch eine sehr auffallende Übereinstimmung. Der eine Teil lebt, bewusst oder unbewusst, in hohen oder niederen Lebenskreisen, das Dasein eines Tieres, das für eine kurze Lebensspanne seinen ihm von der physischen Natur angewiesenen Weg verfolgt und eine andere Bestimmung gar nicht kennt. Der andere Teil sucht einen Ausweg aus dieser wenig befriedigenden Lebensanschauung. Der Lebensgang dieser nach etwas Besserem Suchenden ist von Dante im ersten Gesang der Göttlichen Komödie am schönsten beschrieben, und diese Entwicklung ist der Gegenstand aller inneren Lebensgeschichten bedeutender Menschen.

Den Eingang bildet die Unbefriedigung mit dem gewöhnlichen Leben, das Sehnen nach etwas Besserem. Die Vernunft selbst sucht einen Ausweg aus dem Labyrinth und fasst zuletzt, "des Treibens müde", den Entschluss, um jeden Preis den Weg aller Welt zu verlassen, um zum Frieden zu gelangen. Wenn dieser Entschluss gefasst ist, hält sich der Mensch für gerettet und empfindet das innere Wohlgefühl, das mit dem Ankommen auf dem rechten Weg stets verbunden ist. Er ist es auch im wesentlichen Sinn, denn er ist nun dem ungehinderten Einfluss von neuen geistigen Kräften offen, denen er früher seinen Willen entgegengesetzt hatte. Tatsächlich folgt nun aber als zweite Stufe ein langer Kampf um die Herrschaft zwischen dem, was der Apostel Paulus den alten und den neuen Menschen nennt, die beide vorhanden sind, wobei es sich darum handelt, den letzteren zur Ausgestaltung zu bringen, so dass er nicht ein bloß halbgeborenes Wesen bleibt. Auf dieser zweiten Stufe bleiben schon viele nach dem Besseren strebende Menschen während ihrer ganzen Lebenszeit stehen, und dies ist der Grund, weshalb so manche der Tendenz nach richtige Lebensläufe dennoch unbefriedigend auf andere wirken und wenig zur Veredelung der menschlichen Verhältnisse im Allgemeinen beitragen, obwohl auch das oft unterschätzt wird. Erst die dritte Stufe des geistigen Lebens, allgemein verwirklicht, würde alle menschlichen Beziehungen richtig regulieren.

Diese Stufe ist das Fruchtbringen, die Mitarbeit an einem geistigen Reich, das bald mit einem großartigen Bauwerk, bald auch etwa mit einem ernsten Kriegsdienst verglichen zu werden pflegt. Das allein, nichts anderes, ist daher auch der individuell befriedigte Zustand.

Solange der Mensch nur für sich lebt, wesentlich nur seine eigene Ausbildung, selbst im höchsten und edelsten Sinne, im Auge hat, empfindet er immer noch etwas, das an die Bitterkeit des früheren Egoismus erinnert oder an das Halbdunkel, das in dem goetheschen Wort ausgedrückt ist: "Es irrt der Mensch, so lang er strebt." Dieses Streben für sich selbst muss einmal aufhören; es gibt nichts Unwahreres und im Grunde Trostloseres als die vielbewunderte Maxime Lessings, wonach ein ewiges Streben nach Wahrheit dem Besitz der Wahrheit vorzuziehen sein soll. Es wäre gerade ebenso vernünftig zu behaupten, ein ewiges Dürsten oder ein ewiges Frieren sei wohltätiger als das Finden der erfrischenden Quelle oder der alles belebende Sonnenstrahl.

Der dieser religiösen oder philosophischen Ruhelosigkeit völlig entgegengesetzte Zustand ist der einer beständigen inneren Befriedigung und Kraft, die sich aber zunächst in einer bedeutenden Demut und Abwesenheit alles Wohlgefallens an sich selber äußert und mit allerlei natürlichen Leiden sehr wohl vereinbar ist. Das ist die erreichbare höchste Stufe des menschlichen Daseins. Freilich wird es schwerlich jemals möglich sein, jemandem einen Begriff von dem Wohlsein zu geben, das darin liegt, nicht mehr beständig an sich selbst denken zu müssen ("keine Privatangelegenheiten zu haben", wie Rothe6 sagt) und seine Arbeit ruhig, mit der völligen Gewissheit eines, wenn auch nicht immer sichtbaren, Erfolges zu tun. Der Mut, der zu diesem ganzen Weg gehört, zeigt sich in diesem dritten Stadium nicht mehr in seiner früheren Form einer gewissen Aufgeregtheit, die man leicht mit einer Art von Fieberzustand vergleichen könnte und die auch in einzelnen Fällen diese Form annimmt, sondern er bekommt eine äußerlich ganz kühle, ruhige Art, die mehr einer zentralen Unbeweglichkeit (einem sicheren Vertrauen auf seinen Weg und Stern) gleicht, an der alle Ereignisse, namentlich aber alle Urteile der Menschen gar nichts mehr ändern.

Diese Beschreibungen haben das Missliche an sich, dass sie denjenigen, die Ähnliches noch nicht selbst erfahren haben, als etwas Fantastisches erscheinen. Es ist auch nicht einmal sehr zu tadeln, dass man bei der Erziehung der Jugend sehr wenig davon hört; denn allerdings kann sich die Fantasie leicht dabei einmischen, und jede Unlauterkeit führt in solchen Dingen direkt auf den allerentschiedensten Abweg. Nur den Aufrichtigen lässt es Gott darauf gelingen, zu denen Klinger offenbar gehört hat.

Ob man nun das alles "Idealismus" nennen will, womit für manche kluge Leute die Sache schon von vornherein abgetan ist, lassen wir ganz dahingestellt. Jedenfalls scheint derselbe die Menschen, die sich ihm entschlossen anvertraut haben, zufriedener gemacht zu haben als jede andere der sonst verbreiteten Lebensanschauungen, und es brauchte eigentlich nicht gerade sehr viel Geschichtskenntnis oder eigenen Blick in das Leben, um davon wenigstens überzeugt zu werden. Dennoch, fürchte ich, werden die meisten meiner Leser lieber dem König Agrippa7 als Klinger folgen wollen, so wenig auch der tatsächliche "Erfolg" für den Ersteren spricht.

Das reiche innere Leben solcher Menschen, wie der Letztere es war, ist am besten mit den etwas modifizierten Worten eines deutschen Dichters geschildert:

Licht und Schatten stets vereinigt,
Auch die Fehler fehlen nicht;
Doch die äußre Trübung reinigt
Ein im Innern wirksam Licht.
Zwar Vollendung wird hienieden
Niemals dem Vollendungsdrang;
Doch die Seele wird zufrieden,
Welche nach Vollendung rang.


  1. Louis-Antoine-Léon de Saint-Just, 1767–1794, war ein französischer Schriftsteller und Revolutionär. Vgl. Wikipedia-Artikel

  2. Friedrich Maximilian von Klinger, 1752–1831. Vgl. Wikipedia-Artikel

  3. [Anm. d. Hrsg.] Hier dürfte der französische Politiker Louis Adolphe Thiers (1797–1877) gemeint sein, der erste Staatspräsident der Dritten Französischen Republik. 

  4. Les hommes de principe sont dispenses de reussir, le succes n‘est une condition que pour les habiles. 

  5. [Anm. d. Hrsg.] Gemeint ist der Prophet Haggai des Alten Testaments; der zitierte Spruch befindet sich im ersten Kapitel, Vers 6, des nach ihm benannten Buches. 

  6. [Anm. d. Hrsg.] Vermutlich ist hier der Pfarrer und Lieddichter Johann Andreas Rothe (1688-1758) gemeint. 

  7. [Anm. d. Hrsg.]: Die Anspielung bezieht sich vermutlich auf Agrippa II., der in Apg 26,28 als wohlwollender Skeptiker gegenüber den Ideen des Apostels Paulus dargestellt wird.