Gute Gewohnheiten

(aus Carl Hilty: »Glück«, Teil 1, Leipzig/Frauenfeld 1910)

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zusammen mit anderen Aufsätzen in Carl Hilty: Lebenkunst und Lebensglück.

Die wichtigste Erfahrung, die jeder nachdenkliche Mensch früher oder später bei seiner Selbsterziehung oder bei der Erziehung anderer macht, ist diese: Jede Handlung, ja man muss weiter gehen und sagen, schon jeder Gedanke hinterlässt eine Empfänglichkeit, gleichsam einen materiellen Eindruck, der den nächsten ähnlichen Vorgang erleichtert, den unähnlichen aber erschwert. Das ist »der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären« (Schiller), wie es der sichere Hauptlohn der guten ist, dass sie gut macht und dadurch einen dauernden Gewinn für den Handelnden hervorbringt.

Das Schreckhafte, der beständig tragische Hintergrund des menschlichen Lebens ist, dass wir überhaupt nichts Geschehenes mehr verändern können. Es bleibt so, wie es geschehen ist, so wenig wir es auch glauben und gelten lassen möchten. Wir glauben wohl an eine Vergebung, aber an eine auf einem jenseitigen Konto. In dieser Welt bleibt der Kausalzusammenhang bestehen, und man kann Böses wohl durch Gutes überwinden, aber nicht ungeschehen machen. Daher hat auch die wahre Geschichte stets einen vorwiegend tragischen Charakter, nicht einen komödienhaften, der mit einer allgemeinen Umarmung und Versöhnung schließt.

Fängt man aber einmal an, das Leben in dieser Weise ernstzunehmen, so wird man auch bald bemerken, dass es sich nicht bloß um Denken und Glauben, noch viel weniger um äußerliches Bekennen oder bloße Kirchenzugehörigkeit handelt (zwei Dinge, die den Menschen innerlich ganz unberührt lassen können), sondern eigentlich einzig und allein um Gewohnheiten.

Das Ziel, das es in der Erziehung zu erreichen gilt, sind Menschen mit guten Neigungen. Auf eine stets besonnene Wahl zwischen Gut und Böse kann man nicht vertrauen – diese findet gegenüber den menschlichen Leidenschaften nicht statt –, sondern nur auf eine schnelle, unüberlegte Hinneigung zum Guten.

Das Ideal des menschlichen Daseins ist ein Leben, in dem sich alles Gute aus Gewohnheit von selbst versteht und alles Schlechte der Natur so widerstrebt, dass es auf den Menschen einen körperlich empfindbaren unangenehmen Eindruck macht. Solange das nicht der Fall ist, gehört alle sogenannte Tugend oder Frömmigkeit noch zu den guten Vorsätzen, mit denen auch der Weg zum Bösen ebenso wie der zum Guten gepflastert sein kann.

Welches sind nun aber die vorzüglichsten guten Gewohnheiten des Lebens? Ich will versuchen, einige davon ganz unsystematisch zu beschreiben, in der Meinung, dass unsere heutige Welt der »systematischen« Moral etwas überdrüssig geworden ist und sich viel leichter bewegen lässt, rein praktischen und empirischen Bemerkungen dieser Art Aufmerksamkeit zu schenken.

1 Als erste Hauptregel betrachte ich: Man muss sich stets lieber etwas angewöhnen als negativ etwas abgewöhnen wollen, denn wie im äußeren ist es auch im inneren Leben sehr viel leichter, sich aggressiv, statt bloß defensiv zu verhalten. Beim Angewöhnen macht jeder Gewinn Freude, während das bloße Widerstehen viel zu viel Kraft unnütz verbraucht und bei aufrichtigen Menschen stets mit dem Bewusstsein des mangelhaften Widerstandes verbunden ist, das beschämt und entmutigt. Die Hauptsache ist daher der rasche, stets zum Handeln bereite Entschluss.

Auch für den Lebensgang des einzelnen Menschen gilt in hohem Grade, was Voltaire von dem Schicksal der Staaten sagt: »Ich habe festgestellt, dass bei allen Ereignissen das Schicksal von einem Augenblick abhängt.« Daher ist auch jede Selbstbetrachtung und sind alle Vorsätze, die nicht zu unmittelbarem Handeln führen, sehr gefährlich, ganz besonders auch alle Tagebücher. Ich kenne keines in der ganzen Literaturgeschichte, das nicht den Stempel der Eitelkeit und dazu oft noch den des moralischen Unvermögens an sich trägt (vgl. Mt 6 33-34).

2 Der zweite Punkt ist die Furchtlosigkeit. Ob diese ohne eine stark religiöse Grundlage in höherem Grade möglich ist, wollen wir hier nicht weiter untersuchen. Jedenfalls ist sicher, dass Furcht nicht allein das unangenehmste aller menschlichen Gefühle ist, sondern auch noch das unnützeste dazu. Die Furcht verhindert nicht, dass das Gefürchtete eintritt, verzehrt aber im Voraus die Kraft, die nötig ist, um ihm zu begegnen. Das meiste, was uns im Leben begegnet, ist auch gar nicht so schrecklich, wie es von ferne aussieht, und kann ertragen werden; insbesondere stellt sich die menschliche Fantasie die Dauer der Leiden meist größer und anhaltender vor, als sie ist, und wenn man sich bei Beginn eines Übels einfach sagen würde, es dauere anhaltend drei Tage, nicht länger, so würde man damit in der Regel richtig liegen und jedenfalls mit einer besseren Fassung in die Sache hineingehen.

Das beste Vorbeugungsmittel gegen die Furcht auf philosophischer Basis ist die Überzeugung, dass jede Furcht zugleich ein Zeichen dafür ist, das in unserem Inneren etwas nicht ganz richtig steht. Suche das auf und beseitige es, dann verschwindet die Furcht zum größeren Teil.

Der Unterschied zwischen der philosophischen und der religiösen Furchtlosigkeit liegt vor allem darin, dass die philosophische sich doch stets auf das Unglück gefasst machen muss, und zwar umso mehr (nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit), je länger es bereits ausgeblieben ist. Dagegen hält sich die religiöse Furchtlosigkeit an den alten Spruch: »Deus donando debet«, das heißt, alle Gnadenerweisungen Gottes sind nur eine Sicherheit mehr dafür, dass er den Menschen, für den er schon so vieles getan hat, niemals mehr ganz fallen lassen werde.

3 Den Anlass zur Furcht bildet in der Regel die Frage der Lebensgüter. Da sollte man sich möglichst früh im Leben daran gewöhnen, die besseren den geringeren vorzuziehen und namentlich nicht sich widersprechende Dinge gleichzeitig haben zu wollen, worin der Mangel aller sogenannten »verfehlten Lebensläufe« liegt.

Der Mensch kann (nach meiner Ansicht) nicht allein seine Lebensziele frei wählen, sondern auch alles erreichen, was er ernstlich, einheitlich und mit Aufopferung jedes andern damit nicht vereinbaren Strebens will. Dies frühzeitig zu erkennen und fortwährend mit richtigem Blick das abzulehnen, was mit dem gewählten Zweck nicht harmonieren kann, darin besteht der weitaus größte Teil der sogenannten »Lebensklugheit«, die zum Erfolg führt. Dazu anzuleiten, ist eine Hauptaufgabe der Erziehung. Der andere Teil ist die richtige Wahl der Lebenszwecke.

Die besten und mit besonnenem Handeln auch am leichtesten erreichbaren Lebensgüter sind: eine feste sittliche Überzeugung, eine gute Bildung des Geistes, Liebe, Treue, Arbeitsfähigkeit und Arbeitslust, geistige und körperliche Gesundheit und ein sehr mäßiger Besitz. Alles andere hat keinen, oder nur einen damit gar nicht vergleichbaren Wert. Unvereinbar damit sind: Reichtum, große Ehre und Macht sowie beständiger Lebensgenuss.

Geld, Ehre und Genuss – die drei Dinge, die die gewöhnlichen Menschen am meisten suchen und sehr oft auch erreichen (allerdings nur auf Kosten der anderen Güter) – muss man mit einem einmaligen raschen Entschluss innerlich aufgeben und durch andere Lebensgüter ersetzen. Sonst, auf dem Weg der philosophischen Überzeugung, geschieht es nicht, und von »Maßhalten« ist da keine Rede; das ist lauter Selbsttäuschung. Da muss wirklich Gewalt angewendet werden. (Mt 11 12, Mt 6 19, Joh 5 44, Lk 5 36, Lk 16 15)

Ohne den festen Entschluss, die falschen Lebensgüter aufzugeben, nützt es gar nichts, von Erziehung des inneren Menschen auf religiöser oder philosophischer Grundlage zu sprechen; es wird alles Schein, Halbheit und zuletzt Heuchelei. Aber selbst bei den besten Menschen besteht dieser Entschluss meist nur aus stückweisen Resignationen erzwungener Art. Es gibt nur wenige Leute, die schon in früher Jugend voraussehen, was doch einmal geschehen muss, und die fortwährende Qual durch einen raschen und großartigen Entschluss ersetzen.

Besonders ist hier noch die letzte Klippe zu erwähnen, die Rothe1 mit den Worten kennzeichnet: »Durch Hingebung für eine gute Sache zugleich für seine Person steigen zu wollen, ist eine gefährliche Unlauterkeit.« Leichter ist es, äußere Ehren und alle vornehmen, reichen oder sonst hochmütigen Leute zu meiden, was jedoch ruhig ohne eigenen Hochmut geschehen muss. Die sogenannten unteren Klassen sind viel interessanter, und der etwas scharfsichtige Mensch, der die Gedanken der anderen lesen kann, durchschaut leicht die wahren Beweggründe für Ehrbezeugungen.

In Bezug auf den Geiz ist eine anfängliche große Hilfe eine kleinliche Ehrlichkeit, ohne die es eigentlich überhaupt keine Ehrlichkeit gibt. Es wäre einer eigenen, sehr sonderbaren Untersuchung wert, inwieweit heute die Ehrlichkeit bis ins kleinste besteht oder nicht.

4 Die Ehre und den sogenannten Genuss, mit denen man ein von Dritten abhängiger Sklave bleibt, muss man sofort durch die Liebe ersetzen, die man stets in seiner eigenen freien Verfügung hat. Denn ohne einen solchen Ersatz würde eine ungeheure und ganz unerträgliche Leere zurückbleiben, wie sie das Evangelium in Mt 12 43–45 schildert.

Man muss um jeden Preis und um seiner selbst willen versuchen, gewohnheitsmäßig alle Menschen zu lieben, unabhängig davon, ob sie dessen würdig sein mögen oder nicht, denn es ist viel zu schwer, das immer richtig zu bestimmen. Beachte aber: Liebe ist etwas ganz anderes als Freundschaft. Sie ist der Geduld am nächsten verwandt und erfordert vor allem viel Kraft zum Tragen und Ertragen, während Freundschaft stets etwas im edleren Sinn Egoistisches, Genusssüchtiges an sich behält. Liebe ist die einzige Weise, in der man sich über andere Menschen erheben darf. Sie ist eine bedeutende und berechtigte Überlegenheit über jene, die nicht lieben können, und eigentlich die allein von Gott gutgeheißene Aristokratie.

Ohne Liebe wird das Leben, besonders nach Vorübergang der Jugend, viel zu traurig, und vollends der Hass, in den die Gleichgültigkeit bei gegebenem Anlass allzu leicht übergeht, vergiftet die Existenz dermaßen, dass ein Leben in Hass dem Tod durchaus nicht mehr vorzuziehen ist. Hassen muss man ganz konsequent nur Sachen, nicht Menschen. Es ist zu schwer, in ihnen das Gute und Böse ganz gerecht zu unterscheiden, und jede Ungerechtigkeit erbittert die am meisten, die selbst ungerecht in ihrem Urteil sind.

Lass dich daher durch nichts, weder durch Philosophie noch Erfahrung, von der Liebe abbringen und lehne die Frage der Würdigkeit rundheraus ab. Das ist das einzige Mittel, das Innerste des Gemüts stets ruhig zu erhalten und an allen Dingen und Menschen Interesse zu nehmen. Sonst würden sie dir nach und nach zum größten Teile verleidet. Etwas überspitzt könnte man sagen: Ein Mensch ohne Liebe, der vierzig Jahre alt geworden und noch kein Pessimist ist, hat zu wenig Verstand.

Die Liebe ist, nebenbei gesagt, auch eine sehr große Klugheit; sie täuscht, ohne es zu wollen, alle Bösen beständig. Dies ist ein Hauptgrund, weshalb sie viel weniger ausrichten können, als man denkt. Sie besitzen viel zu wenig wahre Menschenkenntnis, und jede Abwesenheit von Egoismus, auf dessen Vorhandensein sie stets zählen, bringt sie sofort durcheinander. Und wenn es eine erlaubte Schadenfreude gibt, so ist es die, sie in den Augenblicken solcher Missrechnung zu sehen. Die zunehmende Liebe zu den Menschen schärft das Auge und verleiht denen, die sie in hohem Grad besitzen, eine Gabe, die innersten Gedanken der Menschen zu erkennen, die oft an das Wunderbare streift. Der Egoismus dagegen macht nach und nach dumm; damit ist der Schlüssel zu manchem großen Lebensrätsel gegeben.

Wenn du aber, lieber Freund und Leser, mit dem Dichter2 sagen willst:

Ich liebe, die mich lieben, und hasse, die mich hassen, So hab ich‘s stets getrieben und will davon nicht lassen!

nun, so versuche es eine Zeitlang; probieren geht über studieren. Du wirst aber sehr bald bei viel Hass und sehr wenig Liebe ankommen.

In allen bisher genannten Punkten, besonders in dem letzten, ist eine Halbheit nicht möglich, sondern nur ein ganzer und großer Entschluss, ohne alle kleinliche Klugheit. Dagegen gibt es noch manche kleinere Gewohnheiten, welche die großen unterstützen und sozusagen möglicher machen.

Eine solche, die auch schon das Evangelium empfiehlt, ist: »die Toten ihre Toten begraben zu lassen.« (Lk 9 60) Das besorgen sie weitaus am besten, und wenn man sich davon fernhält, Nichtiges und Böses beständig zu bestreiten, so kann man bauen, statt bloß zu zerstören. Denn Zerstören ist immer die untergeordnete, wenn auch notwendige Arbeit – so notwendig freilich, dass manche große Zerstörer die Denkmäler erhalten, die eigentlich nur den Erbauern gebührten.

6 Man muss sich aber auch von den Menschen nie überlisten lassen, selbst nicht scheinbar, sondern pfiffigen Leuten stets zeigen, dass man ihre Gedanken durchschaut und weiß, was sie eigentlich wollen. In diesem Gedankenlesen kann man es, wie schon gesagt, ziemlich weit bringen, wenn man selbst keinen Egoismus mehr festhält.

Abgesehen aber von dieser notwendigen Verteidigung, tut man im Ganzen sehr viel besser, die Menschen von ihrer guten Seite zu nehmen und Gutes in ihnen bestimmt vorauszusetzen. Nicht allein strengen sie sich dann oft dazu an und werden wirklich besser dadurch, sondern man vermeidet auch die eigene Missempfindung. Umgang mit Menschen, die man als schlecht ansieht, ist dem Geist absolut nachteilig und schadet bei feiner organisierten Menschen sogar dem Körper durch seine widerliche Empfindung, ist also in jeder Hinsicht ungesund.

7 Das Böse braucht keinen harten Tadel oder Vorwurf. Es genügt in den meisten Fällen, dass es ans Licht gebracht wird; dann richtet es sich selbst im Gewissen jedes Menschen, auch wenn er äußerlich widerspricht. Daher muss man ruhig mit den Menschen reden, die zu tadeln sind, ohne Verhüllung der Dinge und ohne besonders gesuchte Milde, aber auch einfach und ohne menschlichen Zorn, der nur selten etwas verbessert.

Für wirklich edle Leute mag der Rat des Dichters noch besser sein:

Hat sich ein Edler dir verfehlt, So tu, als hätt‘st du‘s nicht gezählt. Er wird es in sein Schuldbuch schreiben Und dir‘s nicht lange schuldig bleiben.

Bei gewöhnlichen Menschen aber hat das Sprichwort »Wer beleidigt, der verzeiht nicht« eine erschreckende Wahrheit. Jedenfalls darf man nichts nachtragen; das nützt gar nichts, sondern verdirbt nur das eigene Herz. Und in sehr vielen Fällen wird das Wort des alten Thomas von Kempen seine Richtigkeit behalten:

Wenn ich es recht betrachte, so ist mir noch nie von einer Kreatur Unrecht geschehen.

Es hilft oft, dies recht gründlich und unparteiisch zu überlegen.

8 Ohne viel Liebe werden tugendhafte Menschen leicht langweilig. Es ist nicht zu sagen, wie sehr ein gesittetes, aber im tiefsten Grunde liebeleeres Wesen (besonders gegenüber Andersdenkenden) vor allem junge Leute innerlich erbittert, so dass sie oft lieber mit den Lasterhaftesten leben, als mit diesen kühlen Tugenderscheinungen. Es wäre eine große Aufgabe, dem Protestantismus, in dessen Kreisen solche Erscheinungen mitunter anzutreffen sind, etwas mehr von der natürlichen Freundlichkeit einzuimpfen, wie sie der Katholizismus besitzt.

Die fast rätselhafte Anziehungskraft mancher lasterhaften Leute besteht übrigens darin, dass sie viel natürliche Liebe haben, oder wenigstens zu haben scheinen. Sobald das Laster den kalten Egoismus zeigt, stößt es ab. Das ist ja der Kern aller Liebesromane mit tragischem Ausgang, von Clarissa bis auf die neuesten Produkte.

9 Es erscheint dir unmöglich, gegen alle Menschen gleich freundlich zu sein? Gut, so mache ruhig zuerst einen Unterschied, aber stets zugunsten der Kleinen dieser Welt, der Armen, Einfältigen, Ungebildeten, Kinder, selbst der Tiere und Pflanzen, niemals umgekehrt zugunsten der feinen Leute. Du wirst dich dabei gut befinden, namentlich, wenn du nicht etwa auf Dank für deine »Herablassung« rechnest, sondern ihre Liebe hoch taxierst wie deine.

Am ehesten ist eine merklich kühlere Temperatur am Platze gegenüber Leuten, die einem zu imponieren wünschen oder gegenüber der großen Zahl zivilisierter Menschenfresser, die alle Menschen »kennenlernen« wollen, um sie dann wieder fahren zu lassen, sobald ihre Neugier befriedigt (und vielleicht auch ihre Eitelkeit nicht befriedigt) worden ist. Schließlich gegenüber den Vornehmen, Reichen und – »Damen«, drei Menschenklassen, die stets geneigt sind, die entgegenkommende Liebe misszuverstehen.

Von solchen kleineren guten Gewohnheiten lassen sich noch viele weitere anführen, zum Beispiel sechs Tage arbeiten und den siebenten ruhen, was körperlich gesund erhält und manch üble Gewohnheit von vornherein unmöglich macht; oder keine Pläne machen, sondern immer wieder seine Tagespflicht erfüllen; wenn man spricht, die Wahrheit möglichst genau und kurz sagen; Kleinigkeiten stets als solche behandeln; weder sich selbst noch andere, und zwar auch die Allergeringsten nicht unnötig bemühen und plagen. (In diesem letztgenannten Punkte lassen sich sogar sehr gebildete Menschen manches zu Schulden kommen, was tiefer empfunden wird, als sie glauben. Ein erheblicher Teil des Sozialismus stammt aus dieser Quelle. Das ist also eine sehr schlechte Gewohnheit, die durch eine energische Gegengewöhnung beseitigt werden muss.) Auch der vatikanische Grundsatz, vieles nur mittels Schweigen zu beantworten, ist so übel nicht.

Das meiste in diesen kleineren Punkten ist jedoch individuell und passt nicht für alle Menschen, ja nicht einmal für alle Lebensstufen desselben Menschen. Vieles ergibt sich überdies wohl von selber, wenn man einmal die großen guten Gewohnheiten recht innehat. Und wenn du sagst, es gebe noch zahlreiche weitere gute Gewohnheiten, so bezweifle ich das nicht im geringsten, lade dich vielmehr ein, das vorstehende Register zu deinem Hausgebrauch zu ergänzen. Nur ist es, das wirst du bald bemerken, sehr viel zweckmäßiger, mit einer guten Gewohnheit tatsächlich zu beginnen, als zuerst ein ganz vollständiges Verzeichnis von allen anzulegen.

Bei der wirklichen Verbesserung des Menschen, besonders aber bei der Erziehung der Jugend geht es nicht darum, den Kopf oder sogar den augenblicklichen Willen mit den Bildern aller möglichen Tugenden zu erfüllen, sondern dafür zu sorgen, dass das (vielleicht Wenige), was Gutes in einem Menschen schon ist, Gewohnheit oder Natur werde. Ohne das hat es keinen reellen Wert und dient oft genug nur der Eitelkeit und Selbstverblendung.

* * *

Das Schwierige bei all dem, eigentlich das einzig Schwierige, ist, die natürliche Selbstsucht aus dem Herzen wegzubekommen, die das alles, wenn nicht bezweifelt, so doch tatsächlich verhindert. Es ist in jedem Menschen – das wird niemand bestreiten, der sich kennt – etwas merkwürdig Verkehrtes in Bezug auf Neigungen, das manchmal wirklich an »Verrücktheit«, im Wortsinne genommen, grenzt. Dieses Verkehrte muss durch eine Kraft entfernt werden, und das ist eigentlich das ganze Problem aller Philosophie und Religion – ein Problem, das so alt ist wie die Welt und das sich in jedem neuen Menschen wieder neu zu der Frage gestaltet: »Wo ist diese Kraft zu finden, die den Menschen so zum Guten und Rechten disponiert und geistig so gesund macht, wie es eben zu einem richtigen Lebenslauf erforderlich ist?«

Darüber bestehen nun bekanntlich auch heute die verschiedensten Meinungen. Dante in seinem berühmten 27. Gesang des Purgatorio lässt seinen den rechten Weg suchenden Menschen durch die überlegende Vernunft bis an die Pforte des Heils und sogar bis auf die Höhe des Berges der Läuterung geführt werden, wo fortan der erreichte Zweck des Erdenlebens, das irdische Paradies, beginnt und jedes weitere Suchen überflüssig wird.

Dennoch – und darin finden wir eine starke Inkonsequenz des großen mittelalterlichen Dichters und Philosophen – muss nicht nur ein Engel die gewöhnlichen Seelen über den Ozean an den Fuß dieses Berges bringen (Purgatorio 2), sondern ein anderer auch ihnen wiederholt die Versuchung zur Umkehr, sogar noch jenseits des »Tors der Gnade«, abwenden (Purgatorio 8, Purgatorio 19), und nur durch ein Wunder göttlicher Allmacht (Purgatorio 9, 19–61), bei dem die begleitende Vernunft eine, gelinde gesagt, sehr überflüssige Rolle spielt, gelangen sie an den Punkt, wo der dritte Engel auf der diamantenen Schwelle sitzt, die niemand ohne seine Erlaubnis überschreiten kann.

Doch ist diese große Frage der sittlichen Dynamik nicht unser heutiges Gesprächsthema, und wir bezweifeln auch, dass sich dieselbe anders als auf dem Weg eigener Erfahrung gründlich verstehen lässt.

Mit dem Wollen, dem entscheidenden Entschluss, einen bedeutenden Lebenszweck einheitlich gesinnt zu verfolgen und sich von allem Entgegengesetzten abzuwenden, beginnt jede Selbsterziehung. Dann folgt daraus bald von selbst die Suche nach dem Können. Diese führt zum Finden, sofern man sich entschließt, rücksichtslos auf allen Wegen zu suchen und die entstehende Kraft als den einzig möglichen Beweis für die Richtigkeit des Weges anzuerkennen.

Doch gilt es dabei, genau hinzusehen: Eine vorübergehende Kraft kann auch der Fanatismus verleihen; aber es fehlt ihm die innere Ruhe, die jeder wahren Kraft eigen ist. Im großen Stil zeigt dies unser heutiges Zeitalter in manchen seiner religiösen Erscheinungen. Wie man den Menschen nicht trauen darf, die den stets unruhigen Blick der noch nicht gezähmten und veredelten Tiere haben, so ist Institutionen nicht zu trauen, die mit beständiger Agitation verbunden sind.

Was keine anhaltende, ruhig sittliche Kraft gibt, das ist nicht wahr, und was solche Kraft verleiht, das muss Wahrheit zumindest in sich tragen. Das ist der Satz, der an die Spitze jeder künftigen Philosophie gehört, die für die Menschheit etwas mehr wert sein soll als die bisherige. Alles andere führt zu nichts Rechtem.

Wohl endet Tod des Lebens Not, Doch schaudert Leben vor dem Tod; Es schauet nur die dunkle Hand, Den Becher nicht, den sie ihm bot. So schaudert vor der Lieb‘ ein Herz, Als wär‘s vom Untergang bedroht. Denn wo die Lieb‘ erwachet, stirbt Das Ich, der finstere Despot; Lass du ihn sterben in der Nacht Und wandle frei im Morgenrot.

  1. Vermutlich ist hier der Pfarrer und Lieddichter Johann Andreas Rothe (1688-1758) gemeint. 

  2. Friedrich von Bodenstedt, 1819–1892