20. September

Undank ist schwer zu ertragen. Jedoch beweist er immer, dass man sich in der vorteilhafteren Situation befindet, sowohl tatsächlich als auch seelisch. Daher ist es angemessen, Geduld mit den Undankbaren zu haben, die Dankbaren aber um so höher zu schätzen.

Vorwerfen darf man Undank niemals und niemandem. Die besseren Menschen machen sich diesen Vorwurf selbst, und auf die schlechteren macht er keinen Eindruck. Sie fühlen sich im Gegenteil wie entlastet durch das scheinbare Zugeständnis, dass man Dank erwartet, ihnen also Gutes nur vorschussweise erwiesen habe, in der Hoffnung auf reichliche Anerkennung und Vergeltung. Es handelt sich in ihren Augen dann bloß um eine verfehlte Spekulation, bei der sie die Klügeren gewesen sind.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)