7. September

Der rechte innere Fortschritt erfolgt immer in drei Abschnitten: Der erste ist Enthusiasmus, Feuer wie aus dürrem Reisig, das gewaltig knistert und prasselt und zu hoher Flamme emporschlägt. Der zweite ist ein Erlöschen und Erkalten des hellen Brennens, das oft gar nicht glauben lässt, dass es derselbe Mensch ist, der noch vor kurzem lauter Feuer und Flamme war. Der dritte gleicht der stillen, aber konstanten Glut eines immerfort brennenden Kohlenfeuers, das eine sichere Wärme verbreitet, in dem kein Schwanken und kein Wechsel mehr ist und dessen wohltuende Wirkungen jedermann klar sind.

Wenn der menschliche Geist in einer großen Sache in dieses letzte Stadium gelangt ist, dann gewinnt er diejenige tätige Ruhe, die nach innen Frieden und nach außen Macht heißt.

Jeanne Marie de Cambry sagt von dem ersten Aufschwung der menschlichen Seele zu Gott: »Hat sie ihre Natur überwunden, die untergeordneten Neigungen und Gelüste verleugnet, so erscheint die Morgenröte und erleuchtet die Seele. Gottes Gnade führt sie in allem ihrem Tun nach seinem heiligen Willen. Ist diese erste Stufe der Vollkommenheit erreicht, so verlässt sie sich selbst ganz und willigt in alles ein, was Gott von ihr haben will, der nun der einzige Gegenstand ihrer Wünsche, Gedanken und ihrer Liebe wird. Sie wird jetzt ein blumenreicher Garten voller Tugenden, die sie verschönern und einen überirdischen Lichtglanz über sie verbreiten. Der Herr macht sich so vertraut mit der Seele, dass sie schon innigst mit ihm vereinigt zu sein scheint. Oh, könnten die Menschen diese Gnade fassen, sie würden tausend Welten verlassen, um dieses Genusses nur einen Tag teilhaftig zu werden.«

Das ist ganz wahr und gar nicht übertrieben ausgedrückt, aber es bleibt nicht immer so, eben weil es noch ein Genuss der Seele ist. Das muss noch anders und besser werden. Denn, wie eine andere vornehme Seele es sagt: Gott will, dass wir nicht aus Eigennutz oder aus Neugierde dieses irdische Paradies (denn ein solches ist es wirklich) suchen. Viele tun es dennoch und werden noch einmal vom Egoismus getäuscht, wo sie es am wenigsten glaubten. Das ist die Lebensgeschichte vieler Sektenstifter, auch in unserer Zeit.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)