5. September

Das Recht ist heute und schon seit längster Zeit eine eigentümliche Mischung von Wahrem und Unwahrem, und bei der Rechtsprechung kommt es wesentlich darauf an, möglichst nur das Erstere zur Geltung zu bringen. Man denkt dabei oft an das Wort: »Gott hat die Menschen zur Einfachheit geschaffen; aber sie suchen viele Künste.«

Weshalb? Teils, weil ihnen die einfache, gottgewollte Lebensart in Privat- und Staatsverhältnissen zu einfach ist; teils, weil der Egoismus stets der Wahrheit im Weg steht; und schließlich, weil man sich durch angelernte Künste mehr vor anderen auszeichnen und geltend machen kann als durch die einfache Wahrheit und ihren Dienst.

So entsteht denn um die wirklichen Rechtsverhältnisse manchmal Jahrhunderte lang eine Art Dunstkreis von hergebrachten Lügen oder Halbwahrheiten. Durch Gesetze und Gerichte wird er künstlich erhalten, obwohl das gesunde Rechtsgefühl dagegen spricht – bis ihn von Zeit zu Zeit einmal ein ungewöhnlich Starker im Auftrag Gottes zerteilt und der Wahrheit wieder die Tür öffnet.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)