17. November

Ich habe oft in meinem Leben Zeiten gehabt, in denen ich zu einem Menschenverächter hätte werden können. Dass ich es nicht geworden bin, ist nicht meiner Bekanntschaft mit den oberen Schichten der menschlichen Gesellschaft zu verdanken gewesen, sondern dem Einblick in das Leben und die Denkungsart der kleinen Leute.

Sobald man Auge und Vorliebe für das Kleine in der Welt bekommt, ist man vor Pessimismus, dem Leiden unserer Zeit, für immer gesichert. Solange aber in einem Menschen noch eine (wenn auch bloß geringe) Neigung für das Hohe, Vornehme oder äußerlich Auffallende besteht – was heute in den gebildeten und halbgebildeten Klassen fast ausnahmslos der Fall ist –, solange hat der "Fürst dieser Welt" seinen Rechtsanspruch noch nicht verloren, und ein dauerhaftes Glück ist nicht zu erlangen.

Es ist beizufügen, dass das Kleine für gewöhnlich, sobald man sich überhaupt mit ihm beschäftigen will, das bei weitem Interessantere und Liebenswürdigere ist. Eine Ameise, die man in ihrem Bau beobachtet, ein fleißiges Bienchen oder ein Dompfäffchen sind viel merkwürdigere und ansprechendere Tiere als ein Löwe, ein Adler oder gar ein Walfisch. Und ein kleines Alpenblümchen ist weit schöner als die prachtvollste Tulpe und alle modernen Blattpflanzen. So ist es bei den Menschen auch. Achte auf das Kleine in der Welt; das macht das Leben reicher und zufriedener.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)