1. November

Der Gedanke an den Tod, der für junge Leute meistens schreckhaft ist, verliert diese Eigenschaft unter normalen Verhältnissen und, wenn keine Gewissensangst dazu kommt, in dem Maße, in dem die Wahrscheinlichkeit des Sterbens zunimmt.

Das Sterben erscheint dann als ein großer Übergangsakt, der sich von dem des täglichen Einschlafens und Wiedererwachens nicht wesentlich unterscheidet. Authentische Berichte über den Vorgang selbst haben wir jedoch keine, wie sich auch niemand genau den Vorgang des Einschlafens vergegenwärtigen kann. Allerdings sagt ein berühmter moderner Schriftsteller (Tolstoi) über das Gefühl beim Herannahen des Todes etwas, das mit den Erfahrungen vieler anderer übereinstimmt: "Ich entferne mich immer mehr von den Gedanken, die ich sonst an Tod und Leben knüpfte. Der Erstere verlor das Schreckhafte für mich, und täglich kam ich der Erkenntnis näher, dass der Tod eine der Episoden des Lebens darstellt, das nicht aufhört. Ich kam dahin, geduldig, ja freudig den Tod zu erwarten und ihm entgegenzusehen. Die Zuversicht eines fortgesetzten Lebens erstarkte derart in mir, dass alle Zweifel kraftlos dahinschwanden und oft ein freudiger Schrei sich meiner Brust entringen wollte, wie der eines neugeborenen Kindes. Ein unendliches Glückgefühl erfüllte meine Seele, und ich wartete auf den Tod wie auf einen guten, lieben Freund!"

Für große Fehler und unentwirrbare Verwicklungen ist der Tod, den Gott schickt, oft der einzig noch mögliche Ausweg, der alle Fragen löst, und ein Versöhner, der viel Hass und Zorn beschwichtigen kann. Dagegen ist das "Sterbenwollen" ein unredliches Mittel, um den Schwierigkeiten des Lebens zu entrinnen; ungefähr so, wie ein schlechter und unehrenhafter Spieler die Karten oder Schachfiguren zusammenwirft. Wir sind nicht in dieses Leben gerufen worden, um uns daraus willkürlich wieder zu entfernen, wenn wir keinen Geschmack mehr daran finden, sondern um ein für uns und andere nützliches Dasein zu führen, bis Gott uns, zu rechter Zeit, abruft (Hiob 5 17–26, GBG 132).

Und mit dem eigenmächtigen Sterben ist es vermutlich auch gar nicht abgetan; sondern es folgt ein anderes, wahrscheinlich viel schwereres Leben darauf. Das können wir jedenfalls nicht willkürlich abschneiden, wenn es so ist.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)