9. Mai

Eines der unangenehmsten Dinge, denen man auf dem Lebensweg begegnen kann, ist der Neid. Er muss ertragen werden; Neider lassen sich nicht begütigen. Dagegen kann man ihnen durch fortwährende Tüchtigkeit ruhig trotzen. Ein etwas derbes Sprichwort, das ursprünglich, glaube ich, von Goethe herrührt, drückt dies so aus:

Soll der Neider platzen,
Begib dich deiner Fratzen.

Man muss sich aber auch hüten, den Neid durch absichtliche Schaustellung von Vorzügen, Besitz etc. zu erregen. Damit gibt man Veranlassung zu einem großen inneren Verderben der Nebenmenschen, die unter dem Fluch des »Ärgernisses« steht. Besonders Frauen verstoßen oft gegen dieses Gebot, indem sie mit ihren Verlobten, Ehegatten, Kindern, Kleidern und Schmucksachen, Besuchen, angenehmer Häuslichkeit etc. gern vor anderen prunken, die das alles nicht haben. Es ist das eine der unschönsten Seiten des weiblichen Charakters.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)