6. März

Lebensüberdruss ist nie ein gutes Zeichen. Ganz sicher fehlt etwas in dem Menschen, der ihn hat, sei es körperlich oder geistig. Er befindet sich entweder nicht in einer nahen, individuellen Verbindung mit Gott, die dieses Gefühl absolut ausschließt, oder er glaubt überhaupt nicht an Gott. Dann freilich ist zeitweiser Lebensüberdruss gerade bei geistig bedeutenden Menschen ganz natürlich. Denn sie können in ihrem eigenen Ich oder in der Gesellschaft gleichartiger Menschen oder in ihren eigenen Werken keine vollständige Befriedigung finden, und zwar umso weniger, je bedeutender sie sind.

Besonders das Alter eines solchen Menschen kann unmöglich ganz glücklich sein, und es ist mir in der Tat auch kein einziges Beispiel bekannt, in dem es nicht mit Melancholie, Zornmut oder Verbitterung verbunden war. Vorausgesetzt, dass man hinter die Kulissen blicken kann und nicht unbedingt an die »Biographien« glaubt, die das möglichst zu vertuschen pflegen.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)