12. Juni

Die menschlichen Lebensläufe sind eigentlich ein großes Scheinwesen. Was sich unter der geglätteten Oberfläche verbirgt, sieht man nicht und wünscht es auch gar nicht zu sehen. Nur hier und da klafft plötzlich ein Riss in dieser Rinde und zeigt die wahre Gestalt des Inneren, so wie Gott es sieht. Daher sind fast alle menschlichen Urteile und besonders alle Biographien nur halbwahr; sie betreffen nur die Oberfläche.

Trotzdem ist selbst die menschliche Gerechtigkeit größer, als wir es jetzt gewöhnlich unter dem Einfluss eines politischen Pessimismus annehmen, der dem ebenso einseitigen Preisen der »Errungenschaften« des neunzehnten Jahrhunderts gefolgt ist. Kurze Zeit schon nach dem Tod einer allgemein bekannten Persönlichkeit bildet sich nicht eine Legende, sondern die im Großen und Ganzen richtige öffentliche Meinung über sie, die bestehen bleibt, selbst wenn sie sich nicht sofort laut äußert.

Es ist mir kein einziges Beispiel der Geschichte gegenwärtig, wonach ein schlechter Mensch in einem guten Ruf geblieben wäre. Wenn der umgekehrte Fall häufiger sein sollte, läge es offenbar daran, dass auch gute Menschen oft ihre schwachen Seiten haben oder in bedenkliche Irrtümer verfallen sein können. Dennoch finden diese Amnestie, sofern die Grundanlage eine gute ist. Beinahe alle berühmten Lehrer der Kirche, von den sogenannten Kirchenvätern bis zu den Reformatoren, sind Beispiele dafür; ebenso Bismarck, Goethe oder Friedrich der Große.

Was sich für uns daraus erhellt, ist, dass in der menschlichen Brust ein tiefes Bedürfnis nach Gerechtigkeit besteht, das nur der Nachklang und die Wirkung einer wirklich bestehenden göttlichen Gerechtigkeit sein kann, auf die wir für Leben und Tod unsere Zuversicht setzen.

Spr 10 7

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)