28. Januar

Zu    2 Kön 5 15–19    Dan 3 28    Dan 6 27    1 Mos 3 6    1 Mos 3 16

Es wird niemals gelingen, die Religionsgeschichte zivilisierter Völker ganz von derjenigen des Volkes Israel abzulösen. Diese hat im Christentum ihre – nach unserer Auffassung notwendige – »Reform« gefunden, während die Juden es als eine unberechtigte Revolution ansehen, ähnlich wie sich der Katholizismus gegenüber dem Protestantismus verhält. Wie sich diese historischen Gegensätze einmal in einer höheren Einheit auflösen werden, darüber mag der Leser selber nachdenken. Dass es geschehen wird, ist sicher, weil alle drei Bekenntnisse den gleichen Urgrund und Ausgangspunkt haben: den »Gott Israels«, den einzigen »wahren Gott« oder, wie wir uns jetzt ausdrücken würden, die einzig vollkommene menschliche Auffassung von einer Tatsache, die weit über menschliches Fassungsvermögen hinausreicht.

Es ist sehr leicht und billig, gegenüber Gott den Mutigen zu spielen. Viele, die es heute tun, sind nicht halb so mutig gegen mächtige Menschen und würden in einer Staatsordnung, die den Atheismus mit harten Strafen belegt, schweigen. Aber man kann ihnen die relative Anerkennung nicht versagen, dass sie ein gewisses Recht haben, sich gegen jede näher definierte Auffassung Gottes zu erheben; denn eine solche wird immer etwas zu Enges und deshalb Irriges an sich tragen. Gott ist ganz gewiss etwas unendlich viel Großartigeres als alle menschlichen »Gottesbegriffe«, die jemals ausgesonnen worden sind.

Wir würden daher heute noch besser tun, unsere ganze Dogmatik oder Philosophie beiseitezuschieben und unsere Kinder einfach zu lehren, an den historischen »Gott Israels« und »Gott Christi« zu glauben. Einen Gott, der sich in tatsächlichen Ereignissen dokumentierte, die schon uralte mächtigste Könige anerkennen mussten, und der sich noch heute ganz gleich fühlbar macht.

Die sittliche Weltordnung beruht, damals wie jetzt, auf Freiwilligkeit. Sie lässt das Böse wie das Gute geschehen, sichert dem Letzteren nur den Sieg, wenn es ganz gut ist, und weiß in der Zwischenzeit das Böse durch Böses zu vernichten, »die Toten durch Tote zu begraben«. Das ist eines solchen, großartigen Gottes allein würdig und mutet manchmal wie eine erhabene Ironie über das verkehrte Wesen und Treiben der kleinen Menschlein an, die meinen, das mit ihrer vergänglichen »Philosophie« oder »Politik« ändern zu können.

Ps 2 1–4    2 Mos 3 6    2 Mos 3 13–16

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)