24. Januar

»Sorget nicht für den morgigen Tag; ein jeder Tag hat genug seiner eigenen Plage.« In diesem berühmten Wort ist der Nachsatz so offenkundig, dass die meisten auch gern dem Vordersatz zustimmen würden, wenn sie ihn nur für ausführbar hielten; das Leben würde dadurch ja um vieles leichter. Er ist ausführbar, aber nur in Gottes Führung, die viel klüger ist und Dinge rechtzeitiger ausführt als die größte menschliche Klugheit. Der Mensch verkennt meist die Umstände und die eigene Kraft, und oft stellt er »seinen Fuß in einen noch zu großen Schuh.«

Das größte Hindernis, das dem Christentum in der Welt entgegensteht, ist, dass sich Außenstehende die Möglichkeit, nach seinen Vorschriften zu leben, gar nicht vorstellen können. Dies ist ganz natürlich, da der Mensch selber verändert wird. Nicht der gleiche, sondern ein anderer denkt und handelt später, und darum denkt und handelt er anders als bisher. Vorläufig muss aber noch der gleiche Mensch den ersten »Sprung ins Dunkle« wagen. Dazu gehört freilich etwas, was Augustin und Calvin »Gnadenwahl« nennen. Dies tritt aber allen Menschen das eine oder andere Mal in ihrem Leben nahe und muss dann ergriffen und benutzt werden.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)