4. Februar

Es ist ja doch zu wenig Liebe und zu viel Egoismus in der Welt, sagen die Pessimisten, darum wollen wir diese erbärmliche Menschheit aufgeben und verachten.

Der Vordersatz ist unbestreitbar richtig, aber die Schlussfolgerung nicht. Richtig wäre: Darum wollen wir wenigstens noch so viel Liebe und so wenig Egoismus wie möglich hinzutun.

Dessen sei aber gewiss: Du musst ein anderes Herz bekommen, das Gott über alles liebt und allen Geschöpfen selbstverständlich wohlwollend zugeneigt ist. Sonst ist alles, was du von Religion, Humanität oder Menschenliebe sprichst, noch ein ziemlich leeres Geschwätz. Und der Materialismus, der das menschliche Wesen auf den natürlichen Egoismus begründet, ist dann auch für dich das wahrheitsgetreuere System, ganz gleich, ob du kirchlich gesinnt bist, oder nicht. Nur dieses »andere« Herz ist dem Egoismus überlegen. Aber kein Mensch hat es von Natur aus und kann es sich erfahrungsgemäß auch durch keinerlei Anstrengung des Denkens oder Wollens verschaffen. Das ist der Grund, weshalb man bei einiger Menschenkenntnis und Lebenserfahrung eine Befreiung oder »Erlösung« durch eine außerhalb des Menschen stehende Macht annehmen muss, eine Macht, die im Übrigen schon im Alten Testament vielfach zugesagt ist.

Jes 43 10    Jes 65 17–24    Jes 66 12–14    Jer 24 7    Jer 31 1–14    Jer 31 33    Hes 11 19–20    Hes 36 26.

Erklären kann man’s dir nicht, wenn du es nicht erfahren hast. Aber erfahren kann es jeder.

Ein indisches weises Wort sagt zwar:

Unwissenheit wird zur Hälfte überwunden durch freien Gedankenaustausch, die Hälfte des Verbliebenen durch Hinwendung zur Philosophie, das Übrige verblasst im Licht der Selbstbetrachtung.1

Versuche es meinethalben; aber ich sage dir im Voraus: Es wird dir noch immer ein starker Rest von Unbefriedigung übrig bleiben auf diesem Weg.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)


  1. Half of ignorance is destroyed by free exchange of thought, half of the remainder is dispelled by application to philosophy, the rest fades away in the light of self-reflection. (Yogavâsishtha)