2. Februar

Die kirchliche Lehre vom »Zorn Gottes«, der nur durch Christus’ Leiden und Sterben, gewissermaßen mit Blut, hätte gestillt werden können, habe ich nie ganz begriffen. Wäre Gott derart zornig über uns gewesen, hätte er uns diesen Erlöser gar nicht gesendet – darin liegt ja schon die Vergebung. Und Christus hatte doch nicht bloß rasch zu leiden und zu sterben, sondern er musste vorher leben und zeigen, dass und wie ein besseres Leben als mit einer sadduzäischen Weltfrömmigkeit oder pharisäischen Kirchlichkeit möglich sei. Darin, in diesem Leben, sollen wir ihm nachfolgen, dabei auch unseren Teil Leiden und Glaubensprüfungen geduldig annehmen und sie dadurch überwinden, dass wir uns ihm anschließen.

Ein so vorbildliches Leben, wie es das von Christus war und für alle Zeiten und Fälle des menschlichen Daseins sein sollte, wäre allerdings nicht ganz vollständig gewesen ohne den Schlussakt, den sein Tod und seine Auferstehung bilden. Das sagen schon der gesunde Menschenverstand und die Psychologie, ohne alle Dogmatik. Er hat das Größte tun und das Schwerste leiden müssen, damit wir das viel Geringere, das uns betreffen mag, auch für möglich halten und tun. Möglich ist es umso mehr, als wir jetzt außer unserer eigenen auch seine Kraft und seine Verheißungen besitzen, die schon vielen über Not und Tod hinweggeholfen haben. Das Blut dieses Opfers macht uns jedoch nicht von selber rein, so wenig wie das Wasser der Taufe. Rein werden wir nur durch die dankbare Annahme des Opfers für uns und durch die Liebe zu ihm und zu Gott, die daraus folgt.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)