23. Dezember

Das typische Kapitel für den stets bestehenden Unterschied zwischen der jeweiligen wissenschaftlichen Theologie und dem wahren Christentum, wie es Christus wollte, ist das Kapitel 3 des Evangelium Johannes (Joh 3). Der gelehrte Nikodemus leitet seinen Besuch mit einer zwar gewiss ernst gemeinten Captatio Benevolentiae, einer heute sogenannten »Anerkennung« ein, womit er glaubt, dem Nichtgelehrten eine Ehre erwiesen zu haben, der nun aber eine Art von Belehrung folgen soll. Diese wird jedoch von Christus kurz damit abgeschnitten, dass er ihm erwidert: „Wir reden das, was wir wissen, weil wir es gesehen und gehört haben; ihr aber redet, was ihr gelernt und studiert habt.«

Das ist noch heute der Unterschied. Das Christentum kann man nicht »lehren«, sondern bloß dazu führen und sänftlich anleiten, damit der andere allmählich hören und sehen kann; insofern hat es in der Tat nicht die Natur einer Wissenschaft, sondern viel eher einer Geheimlehre, die aber in allen ihren Teilen offen vor jedermanns Augen liegt. Nur können sie viele dennoch nicht sehen und erfassen, und das sind nicht immer die Ungelehrten, eher umgekehrt. Daher sagt auch Christus selbst, wer das Reich Gottes nicht wie ein Kind annehme, das heißt mit festem Glauben, ohne viel Studieren daran, der komme nimmermehr hinein.

Die Theologie muss vorhanden sein; wir würden sie sehr entbehren; aber sie ist weit davon entfernt, das Christentum selber zu sein.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)