2. April

Es ist die Politik des Bösen, sich wo immer möglich in einem gewissen Halbdunkel zu halten und sogar den Schein einer Tugend anzunehmen. Genusssucht will nicht geizig sein; Hass und Neid sind Wahrheitsliebe; Ehrgeiz wird mit Tätigkeitstrieb, Faulheit mit Abneigung gegen alle Streberei oder gar mit völliger Ergebung in den Willen Gottes entschuldigt. Bloß zeitweise werden einzelne Philosophen oder Realpolitiker dreist genug, ihr wahres Gesicht zu zeigen und den Versuch zu einer »Umwertung aller Werte« zu machen. Dann beginnt aber schon gleichzeitig die heilsame Umkehr.

Denn eine Fehde gegen alles Gute wollen die meisten Menschen doch nicht, wenn sich erst die Verblüffung gelegt hat, die eine solch dreiste Ankündigung auslöst. Und dann kann das Böse die Maske auch eine Zeitlang nicht wieder aufsetzen; sie ist ihm einstweilen entfallen, und man sieht es in seiner ganzen, natürlichen Hässlichkeit vor sich. In einer solchen Zeit leben wir jetzt. Das Christentum geht wahrscheinlich einer regelrechten Wiedererweckung entgegen, nachdem alle Versuche, es durch irgendeine Philosophie oder Ethik zu ersetzen, als misslungen zu betrachten sind.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)