Für schlaflose Nächte

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)

Schlaflose Nächte sind ein schwer zu ertragendes Übel, und sie werden von Gesunden und Kranken gefürchtet. Die Gesunden wissen, dass vom regelmäßigen Schlaf die Erhaltung ihrer Gesundheit wesentlich abhängt; den Kranken aber werden ihre Leiden und Schmerzen in den langen, dunklen Nachtstunden doppelt fühlbar, wenn die Unterbrechung durch einen lindernden und stärkenden Schlaf fehlt. Und wenn sich gar Sorgen und Kümmernisse dazugesellen, was ja oft der Fall sein wird, fällt den körperlich geschwächten und geistig deprimierten Menschen die Furcht vor der Zukunft an »wie ein gewappneter Mann«, dem zu widerstehen schwer ist und dem man nicht einmal entfliehen kann.

Doch so wahr dies alles ist, man hat in solchen Fällen keine andere Wahl, als entweder die richtigen und erfolgreichen Mittel dagegen anzuwenden, sofern solche zu finden sind, oder aus der Schlaflosigkeit wenigstens den Nutzen zu ziehen, der möglich ist. Beides lässt sich sogar bis zu einem gewissen Grad miteinander verbinden; dagegen ist bloßes Klagen ohne den Versuch einer Abhilfe offenbar etwas Unvernünftiges und eine Erschwerung statt einer Erleichterung des ohnehin schon schweren Leidens.

I.

Schlaflosigkeit kann aus vielerlei Ursachen entstehen. Meistens kommt sie von Krankheit oder von Sorgen und unruhigen Gedanken, mitunter aber auch von zu viel Ruhe, zu bequemer Lebensart, Unmäßigkeit aller Art oder vom Schlafen am Tag zu unrechter Zeit. Wir wissen überhaupt nicht, was der Schlaf eigentlich ist, und man kommt bei dieser Frage über praktisch ziemlich unfruchtbare Untersuchungen und Auseinandersetzungen kaum hinaus. Nur soviel wissen wir mit Sicherheit aus Erfahrung, dass er in geeignetem Maße zur Erhaltung der Gesundheit notwendig ist und bei Erkrankungen, besonders denen des Nervensystems, das allerbeste, unentbehrlichste Heilmittel darstellt; ferner dass er zur Nachtzeit, und zwar vor Mitternacht beginnend und in einer ununterbrochenen Dauer von wenigstens sechs bis acht Stunden am wirksamsten ist und dass die künstlichen Schlafmittel wenn irgend möglich beiseitezulassen sind.

Die Schlaflosigkeit ist immer ein Übel und nach Möglichkeit zu beseitigen, außer wenn sie aus übermächtiger innerer Freudigkeit entsteht (dann gehört sie zu den größten Freuden des Lebens) oder wenn sie offenbar dazu gesendet ist, dem Menschen eine stille, ungestörte Zeit zum Nachdenken über sein Leben zu verschaffen, die ihm sonst fehlen mag. In diesem Fall ist sie eine nicht gering zu schätzende Gelegenheit, die größten Fortschritte des inneren Lebens zu machen und sich in den Besitz der besten Lebensgüter zu setzen; unendlich viele Menschen werden die entscheidenden Einsichten und Entschlüsse ihres Lebens in schlaflosen Nächten gefunden haben.

Es kann auf keinen Fall schaden, die Sache unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Ein israelischer Weiser, der Rabbi Chanina, Sohn Cachinais, sagt: »Wer nachts wach ist und wer allein auf dem Wege ist und dabei sein Herz dem Müßigen einräumt, der versündigt sich an seiner Seele«, das heißt, er verliert die beste, nicht so leicht wiederkehrende Gelegenheit, einen großen geistigen Gewinn zu erlangen, und setzt sich überdies den Gefahren aus, die unnütze Gedanken leicht in ihrem Gefolge haben.

Man wird also immer gut daran tun, auch die schlaflosen Nächte als eine »Gabe Gottes« anzusehen, die benutzt und nicht ohne weiteres bekämpft werden soll. Mit anderen Worten ist es ratsam sich zu fragen, ob die Schlaflosigkeit nicht einen Zweck haben könne und solle, und dann auf die leise Stimme zu hören, die in solchen Stunden vernehmlicher als sonst spricht, alle anderen Gedanken aber abzuweisen. Dieses »Warum kommt mir diese schlaflose Nacht?« kann ein großer Segen sein, über den schon das Buch Hiob – offenbar aus tiefster Erfahrung heraus – spricht. Es ist auch möglich, dass die Schlaflosigkeit aufhört, wenn ihr Zweck gefunden ist, weil mit diesem Finden eine Beruhigung der Seele eintritt, die auf die körperlichen Organe und besonders die Nerven zurückwirkt.

Hierbei ist noch Folgendes zu beachten: Es ist nicht gut, sich bei Schlaflosigkeit seinen Gedanken willenlos hinzugeben, gewissermaßen sein Schifflein von ihren Wogen treiben zu lassen. Vielmehr muss man den Gedanken befehlen, wohin sie sich wenden sollen. Man soll daher nicht mit sich selbst reden, was gewöhnlich nur zu vermehrter Unruhe führt, sondern mit Gott, bei dem stets eine feste Ruhe zu finden ist, oder – wenn man dies nicht vermag – mit liebenden Menschen, wenn sie vorhanden sind, vor allem mit einer treuen Frau, deren Wort oder Hand oft eine große Beruhigung mit sich führt.

Mangelt es an einer solchen Hilfe, ist ein gutes Buch von Wert, aber eher nur eine kurze Stelle, die zum Denken anregt, den Geist von anderen quälenden Gedanken ablenkt oder ihn auf die rechten Trostquellen verweist. Das Beste in dieser Richtung bleiben stets die Psalmen des Alten Testaments, die Worte Christi im Neuen, das Buch Hiob und einige unserer protestantischen Kirchenlieder, deren schönste (wenn auch nicht alle) zum Beispiel in dem Gesangbuch der Brüdergemeine enthalten sind. Darin besteht auch der Zweck dieser Schrift, solche einzelnen Gedanken zu veranlassen und eine Anregung zu geben, die man nicht immer selber finden kann. Daher sind nur Gedanken aufgenommen, die für schlaflose Nächte passen und meistens sogar selbst die Frucht solcher Nächte sind. Es ist das Zweckmäßigste, einen einzigen guten Gedanken zu erfassen und darüber möglichst ruhig nachzudenken. Es dürfen aber solche Gedanken bei aller Anregungsfähigkeit dennoch nichts Fantastisches enthalten, das nicht am Tag auf seine Realität und Nüchternheit nachgeprüft werden könnte. Leider haben wir sehr wenige Bücher dieser Art, und selbst die bekanntesten Gebete, die sie einigermaßen vertreten sollten, sind nicht immer ganz der Situation entsprechend. Sogar das »Vaterunser« hat nicht in allen Fällen des Leidens die unmittelbare Kraft wie ein anderes Gebet, das ebenso gut ein »Gebet des Herrn« ist und das mitunter besser zu dem Moment passt und immer Wirkung hat.

Das alles müssen natürlich auch diejenigen beachten, die Kranke pflegen oder mit ihnen wachen, wobei sie oft keinen rechten Begriff von ihrer ganzen Aufgabe besitzen. Sie müssten den schlaflos Liegenden aus seinen Gedanken herausbringen, sachte ablenken von unnützen Erinnerungen an die Vergangenheit oder von quälenden Zukunftssorgen, und sie müssten seinem Geist möglichst helfen, sich zu großen und freudigen Ideen aufzuschwingen, bei denen man gerne wacht.

Die Freudigkeit ist es ja vornehmlich, die der jetzigen Generation fehlt, selbst ansonsten vortrefflichen Leuten. Doch es ist schwer, ihnen den wirklichen Grund mit dem richtigen Namen zu bezeichnen, weil sie es immer übel aufzunehmen pflegen. Es ist stets ein Stück Eigenliebe und Eigenwillen, das sie daran hindert, oder Müßiggang, sei er vornehmer oder geringer Art. Vollendeter Gottesgehorsam ist die Bedingung der Freudigkeit, und an dieser Freudigkeit lässt sich jener Gehorsam untrüglich von jedermann erkennen.

Eine solche Freudigkeit, die mit dem deutlichen Gefühl der Gnade und Nähe Gottes verbunden ist, kann auch ein schwer leidender und schlafloser Mensch oft plötzlich empfinden, und zwar in so hohem Maße, dass ihm darüber alles Leiden und namentlich alle Schlaflosigkeit gleichgültig wird und er ein ganz anderes Leben in sich spürt, das mit dem gewöhnlichen, erkrankten, kaum noch im Zusammenhang steht. Wer es nie erfahren hat, wird es kaum glauben, aber viele Zeugen leben dafür. Und selbst die Medizin der Zukunft wird es nicht vermeiden können, diese freudigen Stimmungen für ihre Zwecke zu Hilfe zu rufen und dem »psychologischen Moment« in der Krankheit eine mindestens ebenso große Mitwirkung bei der Heilung beizumessen wie den mechanischen Heilmitteln, die bloß auf das Körperliche im Menschen berechnet sind.

Bereits heute ist die Medizin dahin gelangt, dass sie in der Kräftigung des gesamten Organismus, in der Erhöhung seiner Lebenskraft, die Voraussetzung erblickt zur Wiederherstellung einzelner angegriffener Organe, zum Beispiel der Lungen. Sie muss nun auch die Stärkung des inneren Menschen zu Hilfe nehmen und kommt dann vielleicht noch dazu, an die Möglichkeit dessen zu glauben, was ein moderner Arzt die »Begnadigung« nennt, nämlich das Eingreifen einer höheren Macht in den Verlauf der Krankheit. Dann wäre die edle Heilkunst dem geisttötenden Materialismus entronnen, der ihr seit einem halben Jahrhundert das Vertrauen der leidenden Menschheit in zunehmendem Maße entzogen hat.

II.

Daraus ergibt sich (wenigstens für mich), dass die Schlaflosigkeit nicht immer ein Unglück ist, ebenso wenig wie die Krankheit, die sie gewöhnlich verursacht.

Dies vorausgeschickt, darf man sich aber dennoch mit der Frage beschäftigen, wie sie abzuhalten sei. Denn, wie ein deutscher Dichter sagt: »Die Nacht ist himmlisch und ein göttlich Wunder, die schönste aber ist, die man verschläft.« Als Regel und für gewöhnliche Zeiten bleibt das richtig.

Um Schlaflosigkeit zu vermeiden, ist es zunächst wichtig, die Nachtruhe nicht mit aufregenden und unruhigen Gedanken zu beginnen, sondern mit möglichst stillen und guten sowie mit Frieden im Herzen. Das ist das beste aller Schlafmittel. Wie das nun zu erzielen sei, ob mit einer leichten Arbeit, einer freundlichen Unterhaltung oder einer guten Lektüre (die aber etwas mehr als Zeitungslektüre ist) das wird sehr auf die Individualität ankommen. Sicher ist nur, dass eine sehr ernsthafte Arbeit, die viel Nachdenken erfordert, oder überhaupt Arbeit bis tief in die Nacht hinein nicht unmittelbar vor dem Schlafengehen vorgenommen werden sollte. Gleiches gilt für jede sorgenvolle Beschäftigung, ganz besonders etwa Rechnerei und dergleichen. Dem Schlafe ebenso wenig förderlich ist die gewöhnliche Geselligkeit, die mit viel Essen und Trinken oder vielem und dabei ziemlich leerem Gerede verbunden ist, sowie das Theater, das auch leicht eine Überreizung des Gehirns herbeiführt.

Die künstlichen Schlafmittel sind alle, ohne Ausnahme mehr oder weniger schädlich und nur im Notfall und nach ärztlicher Konsultation zu gebrauchen. Ich rechne zu diesen Mitteln auch die alkoholischen Getränke. Dagegen kann nicht bloß ein zu voller, sondern auch ein zu leerer Magen die nächste Ursache der Schlaflosigkeit sein. Wenn man gar keinen Schlaf finden kann, ist es überhaupt viel besser, Licht zu machen, sogar ein wenig aufzustehen, möglicherweise etwas zu essen, was leicht verdaulich ist, und sich erst nach einer gewissen Beruhigung wieder hinzulegen.

Das Beste ist aber sehr häufig eine gute Handlung, ein bestimmter guter Vorsatz, ein Bekenntnis, eine Umkehr, eine Aussöhnung mit Menschen, ein klarer, guter Entschluss zu künftiger Lebensführung. Das beruhigt die Nerven oft am meisten. Auf jeden Fall ist dies zweckmäßiger als Gedanken von Zorn, Hass, Eifersucht oder Sorgen, die in der Regel gar nichts nützen, am wenigsten in der Dunkelheit der Nacht. »Die Nacht ist keines Menschen Freund,« heißt es mit Recht.1 Nachts erscheint alles Schwere und Dunkle noch schwerer als im Licht des folgenden Tages, der doch immer mit neuer Kraft beginnt.

Natürlich gilt alles Vorstehende zunächst nur für diejenige Schlaflosigkeit, deren Ursache nicht eine bestimmte Krankheit ist. Aber es wird sich in der Zukunft sicherlich als wahr erweisen, dass man selbst die Heilung von Krankheiten durch eine gehobene, kräftige Stimmung des Geistes sehr erleichtern kann und darauf größere Rücksicht nehmen sollte als bisher. Diese geistige Nachhilfe ist unentbehrlich; in den Kranken selbst muss eine Kraft der Gesundung der äußeren medizinischen Hilfe entgegenkommen.

Diese Kraft lässt sich, wo sie nicht vorhanden ist, durch keine Ratschläge oder Aufforderungen »sich zusammenzunehmen« herbeiführen und, wie die tägliche Erfahrung zeigt, auch durch keine Philosophie oder geistige Kultur. Letzteres versagt gerade bei Gebildeten oft gänzlich, sobald sie völlige Kraftlosigkeit in sich empfinden. Diese innere Kraft lässt sich nur herbeiführen durch den freien Zugang und starken Anhalt an eine Kraft außer uns, die unerschöpflich vorhanden und jeden Augenblick zu haben ist. Sie »gibt Stärke genug den Unvermögenden« und kann dem menschlichen Geist diejenige Elastizität und sogar Freudigkeit verleihen, die selbst körperliche Gebrechen erleichtert, wenn nicht gar überwindet.

Um so mehr ist dies der Fall, als diese Gebrechen oft genug die direkte Folge von Schäden sind, die dem geistigen und moralischen Gebiet angehören. Besonders auf dem vielseitigen und trotz allen Fortschritts der Wissenschaft noch sehr dunklen Gebiet der Nervenleiden und des beginnenden Irrsinns ist die Aufgabe der Heilung nicht bei der körperlichen Wirkung, sondern stets bei der geistigen Ursache anzufassen. Dies ist auch die Erklärung vieler sogenannter »wunderbaren« Heilungen, die noch in der heutigen Zeit vorkommen und nicht einfach in das Gebiet der Täuschung oder Selbsttäuschung zu verweisen sind. Eine große Hilfe auf dem richtigen Lebensweg ist es überhaupt, wenn der Geist im Menschen so mächtig geworden ist, dass er den Körper völlig beherrscht, dergestalt, dass man das sittlich Unrichtige als körperliches Unwohlsein, widerliches Gefühl, Schwäche der Nerven empfindet, das Gute und Wahre aber als Kraft, Frische, Klarheit des Kopfes, ruhigen Schlag des Herzens. Dann ist der Körper der richtige Diener und Träger des Geistes geworden, der ihm in seiner Tätigkeit hilft, statt ihn zu hindern. Für manche Schwächen sollte daher der Mensch Gott danken und ihre Heilung auf dem rechten Wege suchen, statt die Warnung und Aufforderung, die in ihnen liegt, in grobem Missverstand ihrer höheren Absicht durch äußerliche Mittel beseitigen zu wollen.

Dieser Gedanke liegt den sogenannten »Gebetsheilanstalten« zu Grunde, wird aber oft unrichtig ausgeführt, und überhaupt braucht es hierfür gar keine besonderen Orte. Jedes Haus ist dafür geeignet, in dem Gott wohnen kann. Stets in Gott wie in einer Festung leben, aus der man nie mehr herausgeht; immer am Tage, solange man überhaupt wachenden Auges ist, etwas Gutes tun und Richtiges arbeiten; fest und immer fester in allen Lebenslagen auf Gott vertrauen – das ist der alleinige unfehlbare Weg zur menschlichen Vollkommenheit und gleichzeitig auch zur Gesundheit. Wer ihn von Jugend an direkt und unentwegt geht, der gelangt früh zu einer großen Vollendung, wie Katharina von Siena, die infolgedessen schon im 33. Lebensjahr ihre irdische Laufbahn abschließen konnte. Die weitaus meisten Menschen aber haben diesen entschlossenen, alles andere verschmähenden und zur wahren Weisheit führenden Willen nicht so frühzeitig. Sie bekommen heute auch selten die ganz richtige Anleitung dazu und lenken daher erst viel später in ihrem Leben in diesen direkten Heilspfad ein, den auch dann noch viele Irrwege durchkreuzen.

III.

Die Gesundheit eines so komplizierten Wesens, wie es der Mensch ist, ist hauptsächlich Widerstandsfähigkeit, körperliche und geistige Reaktion gegen böse Einflüsse, die nicht ganz vermieden werden können, durch keinerlei Vorsichtsmaßregeln. Viel leichter und viel erfolgreicher ist es, den Geist und Körper so zu schulen und zu kräftigen, dass er allem widersteht, ja aus diesem Kampf nicht nur ohne Schaden, sondern sogar mit mehr Stärke und erhöhter Widerstandskraft hervorgeht.

Die allerbeste und einfachste Gesundheitslehre ist ein Leben nach Gottes Geboten; dies verheißt nach den ältesten Überlieferungen der Menschheit gesundes Leben und Kraft bis ins hohe Alter. Das Allerschlimmste für die Gesundheit ist die Neigung des Lebens, oder auch nur der Gedankenwelt, nach dem bloßen Genuss hin, ganz besonders in einer bestimmten Richtung. Darauf ruht ein unfehlbar eintretender Fluch für Geist und Körper. Die heutige Welt ist von dieser Ansicht weit abgekommen und wird das noch schmerzlich an ihrem eigenen Leib und Geist erfahren müssen. Dagegen gibt es – mit Fug und Recht – keine ärztliche Abhilfe.

Verbinden sich mit einer solchen Neigung noch unglückliche äußere Lebensverhältnisse (wie dies gewöhnlich der Fall sein wird) oder auch nur ein Hang zu Grübelei oder zu wenig äußere Beschäftigung, so ist gerade bei den begabtesten Menschen – Dichtern, Künstlern, Philosophen – die Vorbereitung zum Trübsinn oder selbst Wahnsinn gegeben. Ohne eine solche moralische Ursache tritt der Wahnsinn Überhaupt selten ein, während mit einer sittlich guten Lebensart und einem festen Glauben an eine moralische Weltordnung selbst einer erblichen Anlage dazu widerstanden werden kann. Die Furcht vor einer solchen angeblich zwingenden »Belastung«, die heute manches Leben zu einem unglücklichen gestaltet, ist die Folge und Strafe einer materialistischen Geistesrichtung, bei der kein bloß ärztliches Mittel hinreichende Wirkung hat.

Eine ganz besondere, zu wenig beachtete Frage ist die nach der richtigen Gesellschaft für Kranke oder Angegriffene, die Ruhe und Stärkung bedürfen. Schlechte Gesellschaft irgendeiner Art ist für den Geist und Körper Angegriffener ebenso schädlich wie schlechte Luft, selbst wenn diese Gesellschaft nur in dem gewöhnlichen gehaltlosen Gerede besteht, wie es in Kuranstalten eigentlich stets an der Tagesordnung ist. Umgekehrt gehört gute, namentlich aber friedvolle Gesellschaft zu den Bedingungen ihrer Genesung.

Der »Friede« ist etwas ganz Reelles, eine wirkliche Eigenschaft oder Kraft, die manche Menschen haben und überall hin mit sich bringen wie eine wohltuende Atmosphäre. Dagegen tragen andere Leute, die sonst hochbegabt und keinesfalls unmoralisch, oft sogar fromm sein mögen, Unruhe und Unbehaglichkeit in jedes Zimmer, in das sie eintreten. Es dauert meist nicht lange, bis man das spürt; kleine Kinder und Tiere haben dafür sogar einen augenblicklichen Instinkt, der den Erwachsenen durch Nachdenken und Gewöhnung verloren gehen kann, sich bei Krankheit aber oft wieder einfindet. Darauf wird nicht bloß bei den zur Krankenpflege bestimmten Personen zu achten sein, sondern auch bei Angehörigen und Besuchern.

Die bloße äußere Frömmigkeit (etwa bei den Diakonen und Diakonissen) genügt keinesfalls, sondern es muss ein wirklich mitleidiges, hilfreiches, zartfühlendes Herz dazu kommen, das ganz in seinem Beruf lebt, und eine fröhliche Gemütsart, welche die Wirkung eines wahren Glaubens ist. Die geringste Spur von Selbstgerechtigkeit, Dienstunwilligkeit oder Härte des Urteils bei einer solchen dienenden Person – wenn sie sich auch bloß in der Manier, dem Auftreten oder dem Klang der Stimme ausdrückt – kann auf den Kranken einen deprimierenden Eindruck haben, der ihm die Heilung erschwert und ihn von den Quellen seines Trostes abwendet. Es ist eigentlich traurig, dass man diese Bemerkung machen muss; der bloße Materialismus bei einem Teil der Ärzte und der Mangel an wirklichem innerem Beruf und innerer Tauglichkeit bei einem Teil des Pflegepersonals bildet aber ein großes Gegengewicht gegen die technischen Fortschritte der heutigen Arzneikunde.

Hinter den sogenannten »Naturgesetzen«, die übrigens eine bloße Hypothese sind und ohne einen »Gesetzgeber« überhaupt nicht möglich wären, stehen eben immer die Gesetze einer sittlichen Weltordnung, die deren Grundlage bilden. Die heutigen Naturkundigen werden wieder lernen müssen, dies anzuerkennen. Aus einer sittlich ungehörigen Lebensführung kann keine Gesundheit resultieren; ohne sittliche Heilkräfte, bloß mit äußerlichen Mitteln, lässt sich keine Gesundheit erhalten oder wiederherstellen. »Erblich belastet« sind wir alle, aber auch alle der Heilung zugänglich, wenn man die rechten Mittel anwendet; es gibt in diesem Fall vielleicht sogar keine völlig unheilbaren Kranken, denen nicht wenigstens eine sehr große Erleichterung verschafft werden könnte.

Übrigens sind viele Leiden einzelner Organe bloß Folgen einer allgemeinen Schwäche, die man gegenwärtig mit dem Ausdruck Nervosität oder Neurasthenie2 zu bezeichnen pflegt. Mit dieser Schwäche verschwinden auch die Leiden ganz von selber. Sie lässt aber nicht mit bloß körperlichen Mitteln beseitigen; dazu gehört stets die Mitwirkung seelischer Faktoren.

IV.

Ob es schließlich Menschen gibt, die in diesem Sinne eine besondere Heilgabe besitzen, das ist eine andere Frage. Die Heilige Schrift spricht nicht dagegen, sondern dafür. Unzweifelhaft ist es aber nicht die größte Gabe und auch keine alleinstehende, für sich allein denkbare und vorhandene. Die Heilung kommt dabei wahrscheinlich auf keine andere Weise zustande als mittels der kräftigen Anregung eines kranken Geistes durch einen ganz gesunden und die Herstellung einer Verbindung zwischen beiden, die nicht erklärt, jedoch wohl gespürt werden kann. Jedenfalls wendet sich diese Art von Heilung ganz an den inneren Menschen des Kranken. Er wird zu neuem Leben erweckt und kräftig gemacht oder von den vorhandenen Hindernissen dieses inneren Lebens befreit. Zu lernen ist sie nicht, wie eine neue amerikanische Schule es annimmt, sondern es ist eine Gabe und als solche kann sie auch verlorengehen, wenn sie nicht mit Weisheit und mit völliger Treue verwaltet wird. Es gehört wohl vor allen Dingen ein eigener sehr fester Glaube dazu, der auf den Kranken einwirken, teilweise sogar in ihn übergehen muss, und eine gänzliche Freiheit von Ehrsucht oder Eitelkeit, wie sie bei solchen unzünftigen Krankenheilern nicht immer anzutreffen ist. Jede auch noch so geringe Spur dieser Eigenschaften bildet jedenfalls einen triftigen Grund, diesen Menschen zu misstrauen; denn sie heilen ja niemals aus eigener, sondern aus einer fremden Kraft, die sich nicht täuschen lässt – ganz im Gegensatz zu den meist sehr leichtgläubigen Kranken, die auf allen Wegen und allzu eifrig Hilfe suchen.

Am allerwenigsten aber lässt sich eine solche Heilgabe durch ein Amt übertragen oder in besonderen Familien vererben. Es ist eine ganz individuelle Gnadengabe Gottes, die sich auch nicht an bestimmte Heilstätten oder sogenannte »Reichs-Gottes-Orte« bindet. Das gehört vielmehr schon in den Bereich des Aberglaubens, der auf diesem Gebiet stets bereit ist, die Stelle des Glaubens einzunehmen, sobald es ihm an völliger Reinheit und Freiheit von allem »Menschlichen« zu fehlen beginnt. Dann geht es gewöhnlich mit raschen Schritten abwärts, selbst bei guten Anfängen. Solche Beispiele sind zu allen Zeiten vorhanden gewesen und werden in unserer nächsten Zukunft wieder häufiger werden, da wir uns in einer großen Übergangs- und Entwicklungszeit sowohl der Theologie als auch der Medizin, und darin ganz besonders der Psychiatrie und der Nervenheilkunde, befinden.

Von diesen Gesichtspunkten gehen die hier wiedergegebenen Gedanken für schlaflose Nächte aus. Die Einteilung in Tage eines Jahres ist eine ganz zufällige und unverbindliche, bloß dazu da, um eine natürliche Begrenzung zu gewinnen und eine Häufung von zu viel auf einmal zu vermeiden.

Es sind keine Gedanken dabei, die nicht auf eigenem Nachdenken und eigener Erfahrung im Leben beruhen. Sie müssen aber in schlaflosen Nächten, oder doch vorzugsweise in schwerer Zeit gelesen werden; dafür sind sie am geeignetsten.

Grund muss erst gegraben werden,
Eh’ man Türme bauen mag,
Und das Korn muss in die Erden,
Vorher kommt kein Erntetag;
Wir erfahren mit den Jahren,
Was wir denen, die uns fragen,
Von der Hoffnung Zions sagen.
(Zinzendorf)

»Wer rein nicht sein Gewissen nennen darf,«
Sprach er, »wen eigne Schmach, wen fremde drücket,
Dem schmeckt wohl deine Rede streng und scharf.
Dennoch verkünde ganz und unzerstücket
Was du gesehn, von jeder Schminke frei,
Und lass nur den sich kratzen, den es jücket.
Ob schwer dein Wort beim ersten Kosten sei,
Doch Nahrung hinterlässt’s zu kräft’germ Leben,
Ist des Gerichts Verdauung erst vorbei.«
(Dante, Paradiso 17)  


  1. Erste Zeile aus dem Gedicht »Das hat die Sommernacht getan« von Anna Ritter (1865-1921) 

  2. Neurasthenie gehörte im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu den Modekrankheiten einer gehobenen Gesellschaftsschicht. Heute würde man von »Depression« oder »Burn-out-Syndom« sprechen.