Die Kunst des Arbeitens

(aus Carl Hilty: »Glück«, Teil 1, Leipzig/Frauenfeld 1910)

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Die Kunst des Arbeitens ist die wichtigste aller Künste, denn würde man diese einmal recht verstehen, würde jedes andere Wissen und Können unendlich erleichtert werden. Doch ungeachtet dieser Tatsache gibt es immer nur verhältnismäßig wenig Menschen, die richtig zu arbeiten verstehen, und selbst in unserer Zeit, in der mehr als je zuvor von »Arbeit« und »Arbeitern« gesprochen wird, kann man keine wirkliche Zunahme und größere Verbreitung dieser Kunst bemerken. Die allgemeine Tendenz geht eher dahin, möglichst wenig oder nur für eine kurze Zeit im Leben zu arbeiten, den übrigen Teil dagegen in Ruhe zuzubringen.

Aber sind Arbeit und Ruhe wirklich Gegensätze, die sich ausschließen? Diese Frage wollen wir zunächst untersuchen; denn mit dem bloßen Lob der Arbeit, zu dem jeder bereit ist, kommt noch nicht die Lust zur Arbeit. Und solange die Arbeitsunlust ein so verbreitetes Übel, beinahe eine Krankheit der modernen Völker ist (und sich jeder so bald wie möglich der theoretisch gepriesenen Sache praktisch zu entziehen sucht), kann von einer Verbesserung der sozialen Zustände gar nicht die Rede sein. Diese Zustände wären in der Tat unheilbar, wenn Arbeit und Ruhe Gegensätze wären.

Denn nach Ruhe sehnt sich jedes Menschenherz. Der Geringste und Geistesärmste kennt dieses Bedürfnis, und auch der zum Höchsten strebende Geist sucht nicht ewige Anstrengung. Selbst die Fantasie hat für ein späteres, glücklicheres Dasein kein anderes Wort gefunden als das der »ewigen Ruhe.« Wäre die Arbeit notwendig und die Ruhe ihr Gegensatz, dann wäre das Wort: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen« wirklich ein Wort des bitteren Fluchs, und die Erde wäre in der Tat ein Jammertal. Denn in jeder Generation könnten dann immer nur einige Wenige ein »menschenwürdiges« Dasein führen und auch diese – worin der eigentliche Fluch liegt – nur dadurch, dass sie ihre Mitmenschen zur Arbeit zwingen und in der Knechtschaft der Arbeit erhalten.

So sehen es in der Tat die Schriftsteller der antiken Welt an: Die harte, hoffnungslose Arbeitssklaverei von Vielen verschaffte einem Einzelnen die Mittel, um als freier Bürger eines politisch gebildeten Staatswesens zu leben. Und noch im neunzehnten Jahrhundert haben die Bürger einer großen Republik, an ihrer Spitze sogar christliche Geistliche mit der Bibel in der Hand, den Satz verfochten, dass gewisse Menschenrassen zur Arbeit für andere auf ewige Zeiten hinaus erblich verurteilt seien.

Kultur wächst nur auf dem Boden des Reichtums, Reichtum nur durch Kapitalansammlung, und Kapital nur aus der Arbeit anderer, die dafür nicht den richtigen Lohn erhalten, folglich aus Ungerechtigkeit. Das sind ja die Sätze, die heute im Vordergrund der Diskussion stehen. Wir wollen sie hier nicht auf ihre relative oder vollständige Wahrheit prüfen, sondern nur so viel als wahrscheinlich behaupten: Würden alle Menschen richtig arbeiten, wäre die sogenannte soziale Frage gelöst, und auf einem anderen Wege wird sie überhaupt nicht gelöst werden. Mit bloßem Zwang kann das aber kaum erreicht werden, und selbst wenn die physischen Mittel eines Zwanges aller gegen alle immer vorhanden wären, entstünde daraus keine fruchtbare Arbeit. Es kommt vielmehr darauf an, im Menschen die Lust zur Arbeit zu wecken, und damit kommen wir wieder auf den richtigen »pädagogischen« Boden.

Die Arbeitslust kann nicht anders entstehen als durch Überlegung und Erfahrung, niemals durch Lehre, und – wie sich leider täglich zeigt – auch nicht durch Beispiel. Die Erfahrung führt aber jeden, der es an sich selbst erproben will, zu folgenden Erkenntnissen:

Die Ruhe, die der Mensch sucht, findet er nicht in völliger oder möglichst großer Untätigkeit von Geist und Körper, sondern nur in einer angemessen geordneten Tätigkeit der beiden. Die ganze Natur des Menschen ist auf Tätigkeit eingerichtet, und sie rächt sich, wenn er das willkürlich ändern will. Der Mensch ist aus dem Paradies der Ruhe verstoßen; aber Gott hat ihm mit dem Befehl zur Arbeit auch den Trost gegeben, dass diese notwendig ist. Die wirkliche Ruhe entsteht nur inmitten der Tätigkeit: geistig durch den Anblick eines gedeihlichen Fortgangs der Arbeit oder der Bewältigung einer Aufgabe; körperlich durch die natürlich gegebenen Ruhepausen, während des täglichen Schlafs, des täglichen Essens und in der unersetzlichen Ruhe-Oase des Sonntags.

Ein solcher Zustand einer beständigen, fruchtbaren, nur durch diese natürlichen Pausen unterbrochenen Tätigkeit ist der glücklichste, den es auf Erden gibt; der Mensch soll sich gar kein anderes äußeres Glück wünschen. Ja, man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen und hinzufügen: Es kommt dann nicht einmal so sehr viel auf die Art der Tätigkeit an. Jede wirkliche Tätigkeit, die nicht bloß Spielerei ist, hat die Eigenschaft, interessant zu werden, sobald sich der Mensch ernstlich in sie vertieft; nicht die Art der Tätigkeit macht glücklich, sondern die Freude des Schaffens und Gelingens.

Das größte Unglück, das es gibt, ist ein Leben ohne Arbeit, ein Leben, an dessen Ende keine Frucht der Arbeit steht. Daher gibt es auch (und muss es geben) ein Recht auf Arbeit; dies ist sogar das ursprünglichste aller Menschenrechte. Die »Arbeitslosen« sind die wahren Unglücklichen in dieser Welt. Von diesen gibt es aber viele, in den sogenannten oberen Ständen sogar noch mehr als in den unteren. Denn die letzteren werden durch die Notwendigkeit zur Arbeit getrieben, während die anderen durch falsche Erziehung, Vorurteil und die allmächtige Sitte, die in manchen Kreisen die eigentliche Arbeit ausschließt, fast hoffnungslos und erblich zu dem Unglück der Arbeitslosigkeit verurteilt sind.

Wir sehen ja jedes Jahr, wie sie ihre innere Öde und Langeweile auch in unsere Schweizer Berge und Kurorte tragen, von denen sie vergeblich Erfrischung erwarten. Ursprünglich genügte ihnen noch der Sommer, um sich durch körperliche Anstrengung wenigstens vorübergehend von ihrer Krankheit, dem Müßiggang, zu erholen. Nun müssen sie auch noch den Winter dazu nehmen, und demnächst werden die Spitäler, zu denen sie unsere schönsten Täler gemacht haben, das ganze Jahr für diese unruhige Menge offen sein, die überall Ruhe sucht und sie nirgends findet – weil sie sie nicht in der Arbeit sucht.

»Sechs Tage sollst du arbeiten«, nicht weniger und nicht mehr. Mit diesem Rezept würden die meisten nervösen Krankheiten unserer Zeit geheilt werden (soweit sie nicht bereits der Fluch einer Abstammung von arbeitslosen Eltern sind) und die meisten Kurärzte und Irrenärzte ihre Praxis einbüßen. Das Leben soll man überhaupt nicht »genießen«, sondern fruchtbringend gestalten wollen. Wer das nicht einsieht, hat bereits seine geistige Gesundheit verloren, und er wird auch die körperliche nicht in dem Maße behalten, wie es bei richtiger Lebensart möglich wäre. Unser Leben währt siebzig und, wenn es hochkommt, achtzig Jahre, und wenn es Mühe und Arbeit gewesen, so ist es köstlich gewesen – so müsste der Spruch (Ps 90, 6) lauten. Vielleicht lag das auch in seinem ursprünglichen Sinn.

Allerdings müssen wir einschränken: Nicht jede Arbeit ist gleich, und es gibt auch Scheinarbeit, das heißt Arbeit, die nur auf den Schein gerichtet oder nur zum Schein vorhanden ist. Ein Teil der sogenannten »weiblichen Handarbeiten«, die bloße Soldatenspielerei, wie sie früher vorkam, ein großer Teil der Beschäftigung mit »Kunst«, die bloß etwa im mangelhaften und fruchtlosen Klavierspiel besteht, ein erheblicher Teil der Jagd und des sonstigen sogenannten »Sports«, und nicht zuletzt die bloße »Administration« des eigenen Vermögens gehört dazu. Ein gescheiter und tätiger Mensch sollte sich etwas Befriedigenderes aussuchen.

Der originelle schwäbische Pfarrer Flattich erzählt ein schönes Beispiel von einem Offizier seines Landes, der sich in dem bloßen unnützen Gamaschendienst seines Herzogs unglücklich fühlte, die Ursache seines Leidens jedoch nicht erkannte. Er brachte ihn zur Einsicht, indem er ein kleines Mädchen hereinrief und ihr einen Gulden versprach, wenn sie ruhig einen ganzen Tag lang auf einem Stuhl sitzen und einen silbernen Löffel in der Hand halten wolle. Wie vorausgesehen warf das Kind schon nach einer halben Stunde unwillig den Löffel hin und erklärte, eine solche unnütze Arbeit nicht tun zu wollen. Sie könne auch nicht glauben, dass sie dafür wirklich belohnt werde. – Das ist der Grund, warum viele Menschen an ihrer »Arbeit« keine Freude haben; sie ist eben danach.

Aus dem gleichen Grund befriedigt die Arbeit an Maschinen, überhaupt die mechanische und stückweise Arbeit, so wenig. Der Handwerker oder ländliche Arbeiter ist viel zufriedener als der Fabrikarbeiter, durch den die soziale Unruhe erst in die Welt gekommen ist. Dieser sieht zu wenig von dem Erfolg seiner Arbeit, denn arbeiten tut die Maschine – er ist bloß ihr untergeordnetes Werkzeug. Oder er hilft immerfort, irgendein Rädchen zu erstellen, macht aber niemals eine ganze Uhr, die ein erfreuliches Kunstwerk, eine Leistung wahrer Arbeit ist. Eine solche mechanische Arbeit verstößt gegen den natürlichen Begriff von menschlicher Würde, der auch dem Geringsten innewohnt, und sie befriedigt niemanden richtig.

Am glücklichsten sind diejenigen Arbeiter, die sich ganz in ihre Arbeit versenken und darin aufgehen können, die Künstler, deren Geist ganz von ihrem Gegenstand erfüllt sein muss, wenn sie ihn erfassen und wiedergeben sollen; die Gelehrten, die außer ihrem Fach kaum noch Augen für irgendetwas anderes haben; ja selbst die »Originale« aller Gattungen, die sich mitunter in einem engen Wirkungsfeld ihre kleine Welt erbaut haben.

Sie alle haben – objektiv betrachtet vielleicht zu unrecht – das Gefühl, Arbeit zu leisten, wahre, nützliche, für die Welt notwendige Arbeit, keine Spielerei. Viele von ihnen erreichen in ihrer beständigen, anstrengenden und vielleicht sogar ungesunden Tätigkeit die höchsten Altersstufen, während die wenig beschäftigten aristokratischen Lebemänner und Modedamen (um gleich die unnützeste und prinzipiell am wenigsten arbeitende Menschenklasse der heutigen Welt anzuführen) an ihrer Gesundheit beständig auszubessern haben.

Das Erste, was in unserer Welt geschehen muss, ist die Verbreitung der Einsicht und Erfahrung, dass zweckmäßige Arbeit notwendig ist zur Erhaltung der körperlichen und geistigen Gesundheit aller Menschen (ohne Ausnahme) und infolgedessen zu ihrem Glück.

Daraus wird dann folgen, dass die Müßiggänger von Beruf nicht als eine bevorzugte, »distinguierte« Klasse, sondern als das angesehen werden, was sie sind: geistig unvollkommene oder ungesunde Menschen, die die richtige Lebensführung verloren haben. Sobald diese Überzeugung allgemein befestigt ist, wird eine bessere Ära für die Welt herankommen, aber auch nur dann. Bis dahin krankt die Welt daran, dass die Einen eine ungehörige, die Anderen eine ungenügende Arbeit haben, was sich gegenseitig bedingt. Und es ist sehr die Frage, welcher von beiden Teilen der reell unglücklichere ist.

Diese Sätze beruhen auf einer tausendjährigen Erfahrungsgrundlage. Jeder kann sie täglich selbst an sich erproben, wenn er arbeitet oder nicht arbeitet, und alle Religionen und Philosophien predigen sie. Weshalb sind sie dennoch nicht durchgedrungen? Dies kommt von der unrichtigen Einteilung und Anordnung der Arbeit, die dadurch tatsächlich eine Last werden kann, und damit kommen wir auf die unser eigentliches Thema, die Kunst des Arbeitens, zurück. Denn in diesen Punkten ist eine gewisse Belehrung möglich – für denjenigen, der von dem Grundsatz überzeugt ist, dass irgendeine Arbeit notwendig ist, und der sie gern angreifen würde, wenn ihm nicht seltsamerweise immer wieder etwas in die Quere käme.

* * *

Die Arbeit hat wie jede Kunst auch ihre Kunstgriffe, mit denen man sie sich merklich erleichtern kann. Nicht nur das Arbeitenwollen, auch das Arbeitenkönnen ist keine ganz leichte Sache, und manche Leute lernen sie niemals.

1 Der erste Schritt zur Überwindung eines Hindernisses besteht darin, es kennenzulernen. Das Hindernis für das Arbeitenkönnen ist hauptsächlich Trägheit. Jeder Mensch ist von Natur aus träge; es kostet ihn stets Anstrengung, sich über das gewöhnliche, sinnlich-passive Dasein zu erheben. Trägheit zum Guten ist überhaupt unser eigentliches Grundlaster. Es gibt daher keine von Natur aus arbeitsamen Menschen, nur mehr oder weniger lebhafte. Aber auch die lebhaftesten würden sich, ihrer Natur nachgebend, lieber anders unterhalten als durch Arbeit.

Die Arbeitsamkeit braucht ein Motiv, das stärker ist als die sinnliche Trägheit, und dieses Motiv ist entweder ein niedriges oder ein höheres, stets aber ein doppeltes: im Falle des niedrigen Motivs eine Leidenschaft (besonders Ehrgeiz und Habsucht) oder eine Notwendigkeit (Lebenserhaltung), im Falle des höheren Motivs Pflichtgefühl oder Liebe – Liebe zur Arbeit selbst oder zu den Menschen, für die sie geschieht. Das edlere Motiv ist viel nachhaltiger und knüpft sich nicht an den Erfolg, daher verliert es weder durch Überdruss infolge des Misslingens noch durch Sättigung infolge der Erreichung des Zwecks an Stärke. Deswegen sind Ehrgeizige und Habsüchtige zwar oft sehr fleißige, selten aber stetige, gleichmäßig fortschreitende Arbeiter. Und fast immer begnügen sie sich auch mit dem Schein von Arbeit, wenn er nur die gleichen günstigen Ergebnisse für sie selbst (wenn auch nicht unbedingt für ihre Mitmenschen) hat.

Ein Teil der kaufmännischen und industriellen, und wir müssen leider auch sagen: der wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeit hat heute diesen vorwiegenden Charakter. Wenn man einem jungen ins Leben tretenden Menschen einen ersten Rat zu geben hätte, so würde es der sein: Arbeite aus Pflichtgefühl und aus Liebe zu einer Sache oder zu bestimmten Menschen. Schließe dich einer großen Angelegenheit der Menschheit an, der politischen Befreiung der Völker, der Ausbreitung der christlichen Religion, der Hebung der unteren verwahrlosten Klassen, der Beseitigung der Trunkenheit, meinetwegen auch der Herstellung des ewigen Friedens unter den Nationen oder der Sozialreform, der Wahlreform, der Hebung des Straf- und Gefängniswesens usw. – es gibt ja heute eine sehr große Auswahl von solchen Zwecken. Dann wirst du am ehesten einen stetig von außen her auf dich wirkenden Antrieb und, was anfangs wichtig ist, auch Gesellschaft in der Arbeit haben.

Es sollte heute in den zivilisierten Völkern kein junger Mensch mehr vorkommen, der nicht in einer solchen Armee des Fortschritts aktives Mitglied ist. Das allein hebt und stärkt den jugendlichen Menschen und gibt ihm Ausdauer, so dass er schon frühzeitig über sich hinauskommt und nicht allein für sich lebt. Der Egoismus ist stets eine Schwäche und erzeugt lauter Schwächen.

2 Das wirksamste Hilfsmittel gegen die Trägheit ist die große Macht der Gewohnheit. Weshalb sollten wir diese gewaltige Kraft, die gewöhnlich nur im Dienst unserer sinnlichen Natur steht, nicht auch für die höhere Natur nutzbar machen können? Man kann sich ebenso gut an die Arbeit, die Mäßigkeit, die Sparsamkeit, die Wahrhaftigkeit, die Freigiebigkeit gewöhnen wie an die Faulheit, die Genusssucht, die Verschwendung, die Übertreibung und den Geiz. Und wir wollen gleich hinzufügen: Keine menschliche Tugend ist ein gesicherter Besitz, solange sie nicht zur Gewohnheit geworden ist. Man gewöhnt sich allmählich an die Arbeit, so dass der Widerstand der Trägheit immer schwächer und ein arbeitsames Leben schließlich zum Bedürfnis wird. Wenn dies eintritt, ist der Mensch einem großen Teil der gewöhnlichen Lebensschwierigkeiten entgangen.

Hier gibt es nun einige kleine Kunstgriffe, mit denen sich der Mensch den Weg zur gewohnheitsmäßigen Arbeitsamkeit erleichtern kann. Es sind folgende:

Das Allererste ist: anfangen können. Der Entschluss, sich zu einer Arbeit hinzusetzen und seinen Geist auf die Sache zu richten, ist im Grunde das Schwerste. Hat man erst einmal die Feder oder die Hacke in der Hand und den ersten Strich oder Schlag getan, ist die Sache schon um vieles leichter geworden. Es gibt aber Leute, denen immer noch etwas zum Anfangen fehlt und die vor lauter Vorbereitungen (hinter denen sich ihre Trägheit verbirgt) nie dazu kommen, bevor sie müssen. Doch dann führt die zu kurz gewordene Zeit zu einem Gefühl der Bedrängnis, und das geistige, oft sogar körperliche Fieber, das daraus entsteht, beeinträchtigt die Arbeit.

Andere warten auf eine besondere Inspiration, die aber niemals leichter als bei der Arbeit kommt. Es ist für mich eine Erfahrungstatsache, dass die Arbeit, wenn man einmal angefangen hat, immer anders wird, als man sie sich zuvor gedacht hat, und dass man in keiner Ruhezeit so viele Ideen fruchtbarer und oft völlig anderer Art hat als während des Arbeitens selber. Es kommt also darauf an, nichts zu verschieben. Auch eine körperliche oder geistige Unpässlichkeit sollte man nicht so leicht als Vorwand gelten lassen, sondern täglich eine bestimmte, wohlabgemessene Zeit der Arbeit widmen.

Sieht dann der schlaue »alte« Mensch (wie ihn der Apostel Paulus bezeichnet), dass er doch auf jeden Fall eine gewisse Zeit etwas arbeiten muss und sich nicht gänzlich ausruhen darf, entschließt er sich in der Regel auch leicht, gerade das zu tun, was heute am nötigsten ist.

3 Bei geistigen, produktiven Arbeiten verlieren viele Menschen ihre Zeit und Arbeitslust mit der Einteilung oder noch mehr mit der Einleitung. Eine künstliche, tiefsinnige oder überhaupt weit hergeholte Einleitung ist meist gar nicht zweckmäßig, sondern nimmt ungeeigneterweise vorweg, was erst später folgen sollte. Wer trotzdem nicht darauf verzichten möchte, sollte den Rat beherzigen, die Einleitung und den Titel zuletzt zu machen. Sie ergeben sich dann gewöhnlich ganz von selber, und man fängt viel leichter an, wenn man gleich mit dem tatsächlich am besten bekannten Hauptabschnitt beginnt. Aus dem gleichen Grund liest man ein Buch viel leichter, wenn man das Vorwort und oft sogar das erste Kapitel zunächst überschlägt. Ich lese das Vorwort niemals zuerst und finde fast immer, wenn ich nach dem Lesen des Buches einen Blick hineinwerfe, dass ich nichts dabei verloren habe. Es gibt allerdings auch Bücher, in denen das Vorwort das Beste ist – die sind aber überhaupt nicht sehr lesenswert.

Man kann ohne Gefahr noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Fange überhaupt (abgesehen von Einleitung oder Hauptteil) mit dem an, was dir am leichtesten fällt; nur fange an. Der Umweg, der dadurch verursacht werden kann, dass man nicht ganz systematisch vorgeht, wird mehr als ersetzt durch den Zeitgewinn. Ein berühmter Gelehrter (Johann Albrecht Bengel) sagt, er habe alle seine Kenntnisse der Gewohnheit zu verdanken, im Studium immer bei dem leichtesten zu beginnen.

Hierzu kommen noch zwei ergänzende Punkte. Der eine heißt: »Sorge nicht für den morgigen Tag; ein jeder hat genug seiner eigenen Plage.« Der Mensch hat die gefährliche Gabe der Fantasie, die ein viel ausgedehnteres Wirkungsgebiet hat als seine Kraft. Sie stellt ihm die ganze Arbeit, die er zu leisten hat, auf einmal vor Augen, während seine Kraft sie bloß nach und nach bewältigen kann und sich zu diesem Zweck immer wieder erneuern muss. Arbeite also gewohnheitsgemäß nur für das Heute; das Morgen kommt von selber und mit ihm auch die neue morgige Kraft.

Der andere Punkt bezieht sich besonders auf geistige Arbeiten und lautet: Man soll, die Sache zwar recht machen, aber nicht ganz erschöpfen wollen, so dass gar nichts zu sagen oder zu lesen mehr übrig bliebe. Dazu reicht heute die Kraft eines Menschen nicht mehr aus. Es handelt sich im besten Fall darum, ein verhältnismäßig kleines Gebiet ganz und ein größeres in seinen wesentlichen Hauptpunkten zu verarbeiten. Wer zuviel will, der leistet jetzt gewöhnlich zu wenig.

4 Um gut zu arbeiten, darf man nicht ohne Frische und Lust fortarbeiten. Anfangen soll man wohl auch ohne Lust – sonst finge man in der Regel gar nicht an –, aber man soll aufhören, sobald sich infolge der Arbeit eine gewisse Ermüdung einstellt. Dabei ist es nicht nötig, die Arbeit überhaupt aufzugeben. Meist genügt ein Wechsel der Tätigkeit, denn der ist beinahe ebenso erfrischend wie die nötige Ruhe. Ohne diese Einrichtung unserer Natur würden wir überhaupt nicht sehr arbeitsfähig sein.

5 Um viel arbeiten zu können, muss man Kraft sparen, besonders dadurch, dass man keine Zeit auf überflüssige Dinge verwendet. Es ist nicht zu ermessen, wie viel Lust und Kraft zur Arbeit durch unnütze Tätigkeiten verlorengeht. Wir rechnen dazu in erster Linie die übermäßige Zeitungslektüre und in zweiter die übermäßige Vereinstätigkeit und politische Betätigung, besonders die in Form von »Stammtischpolitik« ausgeübte.1 Unzählige Menschen fangen zum Beispiel ihren Morgen – die beste Arbeitszeit – mit der Zeitung an und beenden ihren Tag ebenso regelmäßig an einem Vereins- oder Gesellschafts-, wenn nicht gar an einem Spieltisch. Was sie, wenn sie morgens einige Zeitungsblätter lesen, am folgenden Tag davon noch an geistigem Gewinn behalten, wäre in den meisten Fällen schwer zu sagen; sicher aber ist, dass sie nach dieser Lektüre meist eine gewisse Unlust zur Arbeit verspüren und zu einem weiteren Blatt greifen, wenn sich ein solches gerade noch im Bereich ihrer Hand befindet.

Ein Mensch, der viel arbeiten will, muss jede unnütze geistige – und man darf auch beifügen: körperliche – Beschäftigung sorgfältig meiden und seine Kraft für das zusammenhalten, was er soll.

6 Ein letztes großes Erleichterungsmittel für die geistige Arbeit (die wir stets in erster Linie im Auge haben) ist schließlich das Wiederholen oder – anders ausgedrückt – das Überarbeiten. Fast jede geistige Arbeit wird anfangs nur im allgemeinen Umriss erfasst; erst beim zweiten Angriff entwickeln sich ihre feineren Linien. Dann ist das Verständnis für die Arbeit offener, vorbereiteter. Der rechte Fleiß ist daher, wie ein bedeutender Schriftsteller unserer Zeit sagt, nicht etwa bloß »anhaltende Tätigkeit, die sich keine Ruhe gönnt, sondern vielmehr Versenkung in das, was geschaffen werden soll, mit der Sehnsucht, das geistige Vorbild in sichtbare Formen ganz hineinzubringen. Was man gemeinhin Fleiß nennt, sorgsam ein größeres Material zu bewältigen und in einer gewissen Zeit darin sichtbar voranzukommen, das ist bloß eine Voraussetzung, die sich von selbst versteht, und steht weit unter jenem höheren geistigen Fleiß, der stets arbeitet und nie fertig ist.« (Hermann Grimm, Das Leben Michelangelos)

Ich wusste diesen Gedanken nicht besser auszudrücken. Diese Auffassung der Arbeit beseitigt in der Tat auch das letzte Bedenken, das wir anfänglich hatten, und stellt die Kontinuität der Arbeit (trotz und während der notwendigen Ruhe) her, die doch eigentlich unser unabweisbares Ideal von rechter Arbeit ist.

Der Geist arbeitet immerfort, wenn er einmal diesen wirklichen Fleiß der Versenkung kennt, und es ist in der Tat merkwürdig zu beobachten, wie oft nach solchen (nicht übermäßig verlängerten) Arbeitspausen die Sache unbewusst fortgeschritten ist. Es ist alles wie von selbst klarer geworden; viele Schwierigkeiten erscheinen plötzlich wie gelöst; der anfängliche Vorrat von Ideen hat sich vergrößert und plastische Gestalt, Darstellungsfähigkeit gewonnen, und die erneuerte Arbeitsleistung erscheint jetzt oft nur noch wie ein müheloses Einsammeln dessen, was inzwischen ohne unser Zutun reif geworden ist.

Dies ist dann die Belohnung der Arbeit, neben derjenigen, die man gewöhnlich – und zwar mit vollem Recht – anführt: dass nämlich nur derjenige, der arbeitet, weiß, was Genuss und Erholung ist. Ruhe, ohne vorher gearbeitet zu haben, ist der gleiche Genuss wie Essen ohne Appetit. Der beste, angenehmste, lohnendste und zudem noch billigste Zeitvertreib ist immer die Arbeit.

Und wie die Sachen heute in der Welt stehen, scheint die Erwartung gerechtfertigt, dass eine soziale Revolution auch wieder die jetzigen Arbeitenden zur herrschenden Klasse machen werde, gerade so, wie diejenige zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts den tätigen Bürger über den müßigen Adeligen und Geistlichen emporgehoben hat. Wo immer dieser Bürger seither ein Müßiggänger geworden ist, der wie seine Vorgänger bloß noch von seinen Renten, das heißt von der Arbeit anderer leben will, wird er ebenfalls verschwinden müssen.

Die Zukunft gehört und die Herrschaft gebührt zu allen Zeiten der Arbeit.


  1. Anm. d. Hrsg.: Das war vor 100 Jahren – die modernen Zeiträuber heißen Fernsehen, Internet und soziale Netzwerke.