15. April

Heute will niemand mehr dienen, sondern frei sein – zuerst von Gott, dann von jeder sittlichen Weltordnung, jeder Staatsordnung, jeder Kirche und allen Familienbanden. Dann aber, wenn er das einigermaßen erreicht hat, fällt er in das Gefühl der Leere, in rohe Genusssucht oder finsteren Pessimismus, der sich bis zu einer Zerstörungssucht steigern kann.

Der Mensch sollte umgekehrt damit anfangen, von sich selbst, seinen Stimmungen und Neigungen, frei zu werden, dann aber freiwillig Gott und seiner großen Sache auf Erden dienen; das ist der Weg zum Glück.

Die höchste Klasse der menschlichen Lebensschule ist erreicht, wenn man den Befehl empfängt, nun nicht mehr für die eigene Verbesserung zu sorgen, sondern sich ganz der Wohlfahrt anderer zu widmen. So wird es in einem künftigen Leben, wie wir es uns denken, vermutlich beständig der Fall sein.

Vollbracht
(Röm 6 22, Joh 7 38, Purgatorio 28–29)

Vollendet bist du, herber, steiler Pfad,
Du bange Fahrt von Monaten und Jahren;
Längst wär ich umgekehrt, hätt ich die Gnad’
Von Christi Blut nicht an mir selbst erfahren!

Ja, Blut um Blut! Die Hölle spricht nicht los;
Es lässt die Welt das Ihre leicht nicht fahren;
Das Lösegeld ist unerschwinglich groß!
Wer kann dabei die Freiheit noch bewahren?

Der Freiheit Preis, es ist der Freiheit Tod;
Zum Knechte Gottes musst du dich ergeben;
Der Sold dafür ist: hier dein täglich Brot,
Und dort: dem ew’gen Geist ein ewig Leben.

So bist du frei und doch in einem Joch,
In starker Liebe Seilen festgebunden;
Auf nie gedachten Wegen zwar, jedoch –
Des Lebens Glück und Ziel hast du gefunden!

Nun geht es langsam aufwärts grad und klar;
Kein Zweifel hemmt den Schritt, kein Rückwärtsblicken;
Kein steiler Pfad, kein Abgrund droht Gefahr;
Kein Nebel kann dir mehr das Ziel verrücken.

Es ging die Sonne auf in voller Pracht;
Sie strahlt dich an mit ihren freudigen Gluten;
Dir, Herr und Heiland, sei der Dank gebracht,
dass du dich wolltest einst für mich verbluten.

Du hast’s vollbracht – das Herz ist völlig dein!
Frei wählend ist der Sinn dir hingegeben:
Nimm hin dein Gnadenwerk und lass allein
Mich noch in dir die Zeit zu Ende leben.

Der Feuergeist der Wahrheit und der Kraft
Mag in ein leer Gefäß sich nun ergießen;
Und was er dort, in seiner Werkstatt, schafft,
Soll auf die ganze Menschheit überfließen!

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte«, Leipzig/Frauenfeld 1908)